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Erhard Busek: Parteien wissen nicht mehr, wofür sie wirklich stehen (Bild: Christoph Hopf)

Erhard Busek: Für was stehen Parteien eigentlich noch?

Vier Jahre lang führte er die Geschicke der Österreichischen Volkspartei, war Vizekanzler, Wissenschaftsminister und stellvertretender Wiener Landeshauptmann. Erst eine Kampagne der „Kronen Zeitung“ beendete seine parteipolitische Laufbahn und brachte Wolfgang Schüssel an die ÖVP-Spitze. Erhard Busek setzte sich fortan für mitteleuropäische Interessen ein und leitet bis heute das Institut für den Donauraum und Mitteleuropa. Im Interview spricht der 74-jährige Wiener über die Performance der ÖVP, die Herausforderungen der katholischen Kirche, Europas Russlandpolitik und darüber, warum Kurz der erste richtige Außenminister seit langem ist.

Was hält Sie fit und stark im Leben?

Eine gute Frage. Es war mir immer wichtig Dinge zu tun, die interessant sowie spannend sind und einem etwas im Leben abverlangen. Ich bin ein starker Anhänger von Themenwechseln, das können sie in meiner Karriere genau verfolgen. Ich bin nicht monoman, aber oftmals ergibt sich ein neues spannendes Thema aus dem anderen.

Und gesundheitlich? Treiben Sie viel Sport?

Null. Ich war immer der Meinung Sport ist Mord, oder wie es Winston Churchill zu sagen pflegte: „No sports“. Das hat natürlich seine Nachteile, dafür zahlen Sie einen gewissen Preis. Aber bis jetzt halte ich es ganz gut aus. Solange mein Gehirn funktioniert, bin ich zufrieden.

Gibt oder gab es Momente, wo Sie das tagespolitische Geschäft vermissen?

Nein, die gab es niemals.

Weil?

Das ist je nach Aufgabenstellung verschieden, aber ich habe keine Lust mehr, mich ständig in die Tagespolitik einzumischen. Natürlich gibt es in meiner jetzigen Funktion auch Überschneidungen mit tagespolitischen Themen. Aber ich bin eher grundsatzorientiert, das ist mir auch das Angenehmste.

Erhard Busek: Parteien wissen nicht mehr, wofür sie wirklich stehen
Bild: Christoph Hopf

Hat sich in Sachen Tagespolitik viel verändert in den vergangenen Jahrzehnten?

Ja, das hat es. Hinsichtlich der Oberflächlichkeit der politischen Auseinandersetzung, aber auch der Kurzfristigkeit der Themen, dieser rasche Themenwechsel. Man geht nicht mehr in die Tiefe. Daran ist einerseits die Politik schuld, weil die Qualität – und das sage ich nicht aus Arroganz – der heutigen Akteure sicherlich abnimmt. Und andererseits ist es ein Problem der Vermittlung, sprich der Medien, die einfach immer schlechter werden. Es fehlt an tiefgehenden Analysen, weil es bei den Printmedien etwa an Zeit und Geld mangelt. Doch auch die elektronischen Medien haben eine gewisse Oberflächlichkeit, hier dominiert die akute, aggressive Meinung. Ich denke aber, dass sich dieser Umstand mit der Zeit verbessern wird.

Alexander Van der Bellen meinte in unserem Interview, dass Veränderungen in Österreich sehr viel Zeit beanspruchen. Sehen Sie das genauso?

Österreich ist ein konservatives Land, das steht außer Frage. Ich würde nicht sagen, dass es reaktionär ist, aber es herrscht ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Veränderungen. So in Richtung: Wenn ich nicht weiß, wohin das führt, dann will ich davon nichts wissen. Diese „Ablehnungsmentalität“ lässt sich vielleicht mit der doch relativ bewegten Vergangenheit Österreichs erklären. Da fehlt einfach noch eine gewisse Sicherheit. Wir sind damals mit einer zwei Drittel Mehrheit der Europäischen Union beigetreten und eine solche Mehrheit wehrt sich heute gegen einen Austritt. Zugleich sind wir aber gegenüber der EU ungemein skeptisch. Es ist ein bisschen schizophren.

Kann eine neue Politiker- und Politikerinnengeneration diesen Umstand ändern?

Die Hoffnung sollte man immer haben. Im Moment kann ich nur erkennen, dass es mehr Bewerber wie etwa die NEOS gibt. Es tauchen neue Listen auf, aber wie nachhaltig das ist, das traue ich mich nicht vorherzusagen. Mehr Wettbewerb ist jedoch immer gut. Zugleich muss aber auch eine Verlässlichkeit bei den Parteien untereinander bestehen, sodass man zu einer Einigung bei politischen Herausforderungen kommt. Das ist ja schlechter geworden, die Regierungskoalition leidet da eindeutig darunter. Aber auch die Opposition. Gemeinsame Positionen zu finden ist sicherlich schwierig, aber notwendig, um weiter zu kommen.

Erhard Busek: Parteien wissen nicht mehr, wofür sie wirklich stehen
Bild: Christoph Hopf

Wie bewerten Sie die aktuelle Performance der Bundes-ÖVP?

Die Performance aller Parteien ist gegenwärtig schlecht, das gilt sowohl für die beiden Regierungsparteien als auch für die Opposition. Wobei sich die FPÖ unter Strache derzeit zurücklehnen und hoffen kann, dass es für sie gut ausgeht. Das ist aber keine Performance, denn sie leben bloß von den Fehlern der anderen und das reicht für die Politik nie ganz aus. Aber – Mitterlehner ist eine Verbesserung.

Woran liegt das?

Ich denke, dass die etablierten Parteien nicht mehr wissen, wo sie genau stehen. Und die neuen Parteien sind dabei es herauszufinden, wie etwa die NEOS. Aber das ist sicherlich ein Prozess, der noch dauern wird. Viele agieren einfach opportunistisch, gemäß dem Denken: „wie kann ich die meisten Wähler catchen“. Und da drehen sich die Fahnen dann sehr stark nach dem Wind.

Wie lange funktioniert das Regieren der zwei großen Volksparteien?

Das wird so lange funktionieren, bis es eine Alternative gibt. Ich bin überzeugt, dass die beiden Regierungsparteien bei der nächsten oder übernächsten Wahl die absolute Mehrheit verlieren werden. Die Schwierigkeit liegt darin, dass nicht klar ist, wie eine andere Koalition aussehen kann und davon leben die beiden Parteien sehr stark. Die FPÖ hat sich bislang nicht positionieren können, da hängt ihr die Zeit von Schwarz-Blau noch zu sehr nach.

Wäre die FPÖ in der Lage 2018 Regierungsämter zu besetzen?

Meine Position zur FPÖ ist sehr einfach und die habe ich in einem Satz zusammengefasst: Mit dem Haider ist kein Staat zu machen. Und das obwohl der Haider wesentlich intelligenter war als Strache.

Erhard Busek: Parteien wissen nicht mehr, wofür sie wirklich stehen
Bild: Christoph Hopf

Ist Reinhold Mitterlehner die richtige Führungsperson, um die ÖVP wieder an die Spitze zu bringen?

Bislang ist eine eindeutige Verbesserung zu erkennen und daher habe ich derzeit Vertrauen in ihn.

Welche Rolle spielen die christlichen Wurzeln in der heutigen VP-Politik?

So gut wie keine mehr. Das Gros der Lokalpolitiker kommt vielleicht noch aus diesem Dunstkreis. Es hat  unter anderem damit zu tun, dass die katholische Kirche keine wirkliche politische Orientierung mehr hat. Ich hingegen stamme aus einer Zeit, in der die Kirche die Menschen aufgefordert hat, sich politisch zu engagieren. Das gibt es heute nicht mehr.

Woran liegt das?

Das hat einfach mit der Säkularisierung zu tun. Wobei man allerdings sagen muss, dass die gegenwärtige Situation eher wieder in Richtung Grundsatzfrage bzw. hin zur religiösen Orientierung  geht. Damit meine ich bestimmt nicht den „Islamic State“, um den sich manche bemühen. Der ist sicherlich ein entscheidendes globales Phänomen, aber lokal spielt er keine Rolle. Wir haben andere Herausforderungen, wie etwa Fragen rund um die Fortpflanzung oder über das Recht auf den Tod. Diese Fragen haben sehr stark mit dem Woher und Wohin des Lebens zu tun. Das ist auch eine ökologische und sehr moralische Frage: Präservieren wir unseren Globus, um ihn an eine neue Generation weiterzugeben oder nicht? Die ÖVP setzt hier auch viel zu wenige Akzente.

Sie setzen sich seit Jahren für Reformen in der Kirche ein. Sehen Sie hier erste Erfolge?

Eine wirklich positive Veränderung ist sicherlich die Wahl von Papst Franziskus. Ich kann mir nur wünschen, dass er mit der Kurie und dem Vatikan zurechtkommt. Das wäre zumindest seit langem wieder einmal eine religiöse Botschaft, die Akzente setzt. Das hatte bereits Johannes Paul II erreicht, aber dazwischen war eigentlich nicht sehr viel.

Und in Österreich?

Ich glaube die Kirche in Österreich weiß nicht wirklich, wofür sie steht. Zu meiner Zeit gab es so etwas wie Hirtenworte, Erklärungen der Bischofskonferenzen und so weiter. Das ist heute alles so gut wie weg. Der Kirche fehlt einfach der Mut. Eigentlich müssten die Kirche so viele Dinge nachdenklich stimmen. Ich höre immer wieder, dass die Politik uns neue Werte geben muss. Ich sage dann, dass ich schon mit den alten zufrieden bin und meine damit die zehn Gebote. Dann teste ich, wer diese noch kann. Da gewinnt mit großem Abstand das sechste Gebot, alles andere ist dann unsicher. Das heißt, es fehlt bereits ein grundsätzliches Verständnis.

Stichwort „würdevolles Schlagen“. Wurde der Papst missverstanden oder hat er über die Stränge geschlagen?

Da habe ich keine Ahnung, ich habe das nur kurz registriert. Aber es ist, wie vorhin schon angesprochen, eine Charakteristik der Medien, wonach bestimmte Aussagen überbetont werden. Interessant ist, dass er sich im Vergleich zu seinen Vorgängern mehr darum bemüht zeitgemäße Antworten zu finden, als sich in das theologische Wissen zu vertiefen. Ich befürchte, dass die Medien gewissen modischen Aspekten, wie der bereits angesprochenen Oberflächlichkeit, verfallen. Dieser berühmte „Klaps“ spielt in vielen Familien immer noch eine gewisse Rolle. Aber das tut man nicht, das sagt man nicht. Wir haben eine Schizophrenie zwischen dem, was sich gehört und den Wirklichkeiten des Lebens.

Erhard Busek: Parteien wissen nicht mehr, wofür sie wirklich stehen
Bild: Christoph Hopf

Kommen wir zur Außenpolitik Österreichs: Nach Michael Spindelegger gibt es mit Sebastian Kurz wohl wieder einen echten Außenminister. Sind Sie zufrieden mit seiner Arbeit?

Ihm verdanken wir, dass wir wieder so etwas wie Außenpolitik haben. Und wir werden auch wieder mehr wahrgenommen, das betrachte ich als sehr positiv. Ein Problem wird sicherlich eines Tages sein, dass man ihn fragen wird, was aus dem geworden ist, wofür er sich eingesetzt hat. Die Politik verlangt sehr wohl auch nach Ergebnissen. Da wünsche ich mir, dass er auf seine Ziele achtet, denn es ist mehr als eine vollmundige Ankündigung, strahlende Besuchsfotos und Handshakes erforderlich.

Wie erklären Sie sich den außenpolitischen Stillstand?

Ich glaube, dass Michael Spindelegger nichts davon verstanden hat, ganz einfach.

Hat Sebastian Kurz das Potential den außenpolitischen Spuren Kreiskys zu folgen?

Außenpolitische Themen benötigen viel mehr Öffentlichkeit in Österreich. Ich behaupte immer die zweite Bundeshymne Österreichs ist von Arik Brauer: „Hinter meiner, vorder meiner, links, rechts güts nix“. Also die Grundhaltung dieses Landes ist es, sich aus allem herauszuhalten. Das ist nun schon sehr lange der Fall. Die letzte außenpolitische Entscheidung mit innenpolitischer Wirkung, die wir getroffen haben, war der EU-Beitritt.

Wie bewerten Sie den Umgang der Europäischen Union mit Russland?

Dieser Umgang erfolgte zweifelsfrei ohne ein strategisches Konzept. Man hat die Folgeerscheinungen des Zerfalls der Sowjetunion viel zu wenig analysiert und ist den Amerikanern zum Opfer gefallen. Diese meinten, dass Russland marginal sei und die Europäer sich nicht darum kümmern sollten. Hier gab es nie eine gemeinsame Position. Darunter leidet die Ukraine. Ich glaube nicht, dass die meisten Mitgliedsländer wirklich über die Ukraine Bescheid wissen und das erschwert natürlich das Verhältnis zu Russland. Man muss dazu sagen, dass der Auftritt von Vladimir Putin neue, „alte“ Akzente, die an die Sowjetzeit erinnern, setzt. Damit hat keiner mehr gerechnet.

Meine Generation hat sich dem Friedensprojekt EU verschrieben. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass es noch einmal zu solchen militärischen Auseinandersetzungen in Europa kommen könnte. Putin ist besonders von seiner Zugehörigkeit zur Sowjetunion und seiner KGB-Vergangenheit geprägt. Er ist ein gewisser Risikofaktor für Russland selbst. Das sieht man auch an den immer noch ausständigen wirtschaftlichen Erfolgen. Das stimmt mich nachdenklich, denn er hatte lange Zeit sehr viel Geld, um hier notwendige Infrastrukturen aufzubauen.

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Das ist eine sehr gemischte Palette an Menschen quer durch Politik, Wirtschaft, Kunst und Kultur. Das ist aber eine sehr lange Liste. Ich hatte nie ein einziges großes Vorbild.

Vielen Dank für das Gespräch!

Alexander van der Bellen (Bild: Christoph Hopf)

Van der Bellen: Die SPÖ betrachtet Wien als ihren Besitz

Alexander Van der Bellen lenkte elf Jahre lang die Geschicke der Grünen in Österreich. Er übernahm die Partei bei einem Stimmenanteil von fünf Prozent, den er innerhalb von neun Jahren verdoppeln konnte. Seine politische Leidenschaft gilt insbesondere der Energie- und Bildungspolitik. Im Interview spricht er über die Fehler der Grünen, seine Kritik am europäischen Umgang mit Russland und darüber, was er über die Debatte einer möglichen Kandidatur bei der Bundespräsidentschaftswahl 2016 denkt.

Sie treten bei der kommenden Wien-Wahl nicht mehr an. Haben Sie genug von der Politik?

Naja, genug von der Politik? Das klingt so negativ. Ich lernte die lokale Politik kennen, fand sie interessant und habe mein Bestes gegeben. Vor allem im Hinblick auf die Hochschulen in Wien.

Wie bewerten Sie rückblickend die erste rot-grüne Regierung in Wien?

Für mich ist die Mariahilferstraße das Vorzeigeprojekt schlechthin. Nicht nur weil ich dort unmittelbarer Anrainer bin, sondern generell. Ich finde das muss man schon erleben, wenn man die Einkaufsstraße entlang spaziert und dieses völlig neue Ambiente spürt. Es ist entspannter und man betrachtet in Ruhe die historischen Fassaden der Häuser. Obwohl ich bereits hundertmal vorbeigegangen bin, entdeckte ich erst kürzlich ein Gebäudeportal  der „Zentralsparkasse der Stadt Wien“. Eigentlich sollte dieses unter Denkmalschutz stehen, denn die Zentralsparkasse gibt es ja schon lange nicht mehr. Solche Kleinigkeiten gefallen mir.

Sind bei diesem Projekt Fehler passiert?

Na ja, letztlich ist die Befragung ja positiv ausgegangen. Diese sogenannte Abstimmung, die rein rechtlich gesehen eine Umfrage war, wurde de facto zu einer Abstimmung über die Stadtpolitik. Erst in letzter Sekunde konnte die Mehrheit der Bevölkerung von der Neugestaltung überzeugt werden. Und das vor allem dank der intensiven Hausbesuche. Selbst die, die davor noch dagegen waren, merkten, dass die Grünen mit Leidenschaft für das Projekt kämpften. Das spielte dann doch noch eine gewisse Rolle.

Fehlt diese Bürgernähe in der heutigen Politik?

Ich tue mir sehr schwer in der Beurteilung. In diesem konkreten Fall war es sehr wichtig und eventuell auch entscheidend. Ich bin diesbezüglich etwas zurückhaltend, weil Hausbesuche nicht meins sind (lacht). Dazu ist mir die Wahrung von Distanz zu wichtig.

Alexander Van der Bellen im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Wie schwer regiert man mit jemandem, der einen nicht mag? Die SPÖ wollte bestimmt keine Koalition…

Die SPÖ tut sich schwer damit, nach 100 Jahren absoluter Mehrheit endlich zu registrieren, dass diese Zeiten ein für alle Mal vorbei sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPÖ bei den kommenden Wahlen die Absolute zurückgewinnen wird. Wahlrecht hin, Wahlrecht her. Und das merkt man auf Schritt und Tritt. Die SPÖ betrachtet Wien als ihren Besitz und alles, was das irgendwie in Frage stellt, ist fast schon Blasphemie in den Augen der Sozialdemokraten.

Wie gehen die Grünen bei einer möglichen Neuauflage der Koalition mit der Wahlrechtsreform um?

Da spielen mehrere Dinge eine Rolle. Auf grüner Seite sind einige Fehler passiert. Erstens, man unterschreibt grundsätzlich keinen Notariatsakt, das habe ich in der Politik gelernt (lacht). Zweitens verhandelt man ein derart heikles Thema, wo ein Partner, in diesem Fall die SPÖ, etwas zu verlieren hat am Anfang der Legislaturperiode und nicht kurz vor dem Ende. Ich persönlich finde das Wahlrecht nicht so furchtbar. Was mich viel mehr irritiert, und das ist völlig außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung, ist, dass die SPÖ in allen Wiener Ausschüssen die absolute Mehrheit hat. Und das obwohl sie im Plenum des Gemeinderats bzw. des Landtags natürlich nicht die absolute Mehrheit hat. Ich komme aus dem Parlament und da wäre so etwas undenkbar. Dort werden immer die Verhältnisse des Plenums abgebildet. Nicht so in Wien. Als ich eines Tages noch ein wenig schläfrig im Europaausschuss saß, fiel mir auf, dass ich ganz alleine war. Die Grünen hatten genau einen Sitz gegenüber acht SPÖlern. Die Mehrheitsverhältnisse sind aber nicht 8:1. Und somit kann die SPÖ einen Beschluss des Plenums problemlos im Ausschuss blockieren. Im Nationalrat wäre das undenkbar.

Die Grünen sind in so vielen Landesregierungen wie nie zuvor. Linke Proteststimmen oder ist Österreich “grüner“ geworden?

Das Linksetikett im Zusammenhang mit den Grünen ist irreführend. Ein italienischer Philosoph bezeichnete die grüne Ideologie als transversal, also quer durch. Gesellschafts- und sicherheitspolitisch sicherlich links, aber der Kern, nämlich Ökologie und Umweltschutz, hat etwas konservatives. Es soll etwas bewahrt werden. Auf katholischer Seite heißt es Bewahrung der Schöpfung und wir nennen es trocken Umweltschutz. Da kommt man mit dem Links-Rechts-Schema nicht wirklich weiter. Auf Länderebene besteht zudem ein Unterschied zwischen den linkeren Grünen in Wien und denen in den Bundesländern. Im Übrigen haben sie einfach gut und professionell gearbeitet und wurden in den Wahlen und dann bei den Koalitionsverhandlungen dafür belohnt.

Was unterscheidet die Grünen von heute von denen vor 20 Jahren?

Vor 20 Jahren, das war im Jahre 1995. Ein Krisenjahr für die Grüne Bewegung, wir sind bei den Nationalratswahlen fast aus dem Parlament geflogen. Ich habe den Einzug gerade noch um ein paar Millimeter geschafft. Es gab damals noch Anfangsschwierigkeiten wie unklare Strukturen, heute sind die Grünen viel professioneller. Etwa in der Medienarbeit und in der Verwendung genauer Zielgruppenanalysen. Das alles ist auf den ersten Blick nicht entscheidend, aber das sind notwendige Bedingungen für das Überleben einer Partei.

Alexander Van der Bellen im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Warum lässt sich eine Partei wie die Grünen derart von der Integrationsdebatte vereinnahmen? Stichwort Efgani Dönmez.

Ich sehe das nicht so. Effi Dönmez provoziert gern, auch die eigenen Leute. Aber man sollte auch fragen, was er damit bezweckt. Oft geht es ihm um die Blauäugigkeit, die es auf grüner Seite gegeben hat. Ich kann mich noch erinnern, das war vor ungefähr 20 Jahren, als ein FPÖ-Politiker im Nationalrat erwähnte, dass es in Wien Pflichtschulen mit einem 60-70%igen Anteil nicht-deutschsprachiger Schülerinnen und Schülern gäbe. Bei uns, einem damals sehr kleinen Klub, war die Empörung groß. Aber ich wusste, weil meine Frau damals Volksschullehrerin in Ottakring war, dass dieser Anteil in ihrer Klasse bei über 90% lag. Und das ist nun mal eine Herausforderung für die Lehrerin, die Direktion und den Bezirksinspektor. Triviale Fragen tauchten schon damals auf: Was ist mit dem muslimischen Mädchen im Schwimmunterricht und ihren konservativen Eltern? Du musst mit den Leuten reden und ihnen vermitteln, dass alle Kinder gleichwertig sind und ihnen Chancen ermöglicht werden müssen. Die meisten verstehen das dann auch. Diese Sachen müssen wahrgenommen werden und können nicht einfach negiert werden.

Kommt man mit Beleidigungen wie “Kameltreiber“ weiter?

Nein, da haben Sie natürlich Recht. Das war ein Fehlgriff der Sonderklasse.

Stichwort Wr. Neustadt: Haben Sie die Hysterie um die Wahl des neuen Bürgermeisters nachvollziehen können?

Ich denke, dabei handelt es sich um eine sehr lokale Geschichte. Wr. Neustadt war über Jahrzehnte hinweg in roter Hand. Der neue ÖVP-Bürgermeister ist aber ein Intimus von Landeshauptmann Pröll und da muss man sich schon überlegen, ob man so jemanden unterstützt. Das ist kein schlichter Machtwechsel, sondern kann als Übergang von der feudalen SPÖ zur feudalen ÖVP interpretiert werden. Das einen das aufregt, jenseits der Diskussion rund um die FPÖ, ist verständlich. Ich weiß nicht, wie ich als Wr. Neustädter reagiert hätte. Als Außenstehender ist das schwer zu beurteilen. Ich kann schon verstehen, dass man einen Machtwechsel möchte, aber muss es genau ein solcher sein?

Von der Innenpolitik hinaus in die Welt: Sollte Österreich eine gewichtigere außenpolitische Rolle wie zu Zeiten von Bruno Kreisky übernehmen?

Ja, sollte es. Aber das ist offenbar seit mehr als 20 Jahren nicht das Ziel der österreichischen Politik. Das sieht man nicht zuletzt am immer kleiner werdenden Budget des Außenministeriums, besonders unter Minister Spindelegger. Wenn Botschaften und Konsulate geschlossen werden und das Personal im Ministerium gekürzt wird, dann wird es umso schwieriger, außenpolitischen Einfluss zu entfalten. Es war auch ein Fehler die UN-Soldaten des Bundesheers nach mehr als 35 Jahren praktisch über Nacht vom Golan abzuziehen.

Schiebt Österreich diese Agenden in Richtung Brüssel?

Österreich ist schon sehr viel provinzieller geworden was die Außenpolitik betrifft.

Bringt Außenminister Kurz eine Veränderung?

Er hat eine gute Presse und er hat auch alle überrascht. Jemand, der keine 30 ist, sich ohne große Fehler auf diesem so genannten Parkett bewegt, das ist schon eine sehr gute Leistung. Außenpolitik erfordert normalerweise jahrelanges Engagement. Peter Schieder von der SPÖ war hier ein Musterbeispiel. Von Anfang an hat er internationale Kontakte aufgebaut und gepflegt. Das geht leider zunehmend verloren in Österreich.

Alexander Van der Bellen im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Zuerst Georgien, dann Ukraine: Wie bewerten Sie den Umgang Europas mit Russland?

Ich glaube, wenn ich mich öffentlich dazu geäußert hätte, wäre ich als Putin-Versteher diffamiert worden. Ich finde es skandalös, wie nahezu die gesamte europäische Presse, Österreich ist da keine Ausnahme, nicht einmal versucht russische Positionen zu verstehen. Die Krim war nie ukrainisch, außer in den letzten 50 Jahren. Chruschtschow hat die Halbinsel aus unerfindlichen Gründen damals der Ukraine angegliedert. Wenn es eine indigene Bevölkerung dort gibt, dann sind das die Tataren, sicher nicht die Ukrainer. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die militärisch-strategische Position Russlands. Als 1989 der eiserne Vorhang fiel und die Wiedervereinigung Deutschlands bevorstand, ist Russland zugesichert worden, dass die NATO-Grenze nicht weiter nach Osten verschoben wird. Das geht aus US-Quellen hervor. Die Russen haben aber das Pech, dass das niemals schriftlich vereinbart wurde. Und was ist passiert? Die NATO-Ostgrenze verläuft heute direkt an den Grenzen zu Russland. Ich kann schon verstehen, dass das ein Stirnrunzeln in Russland hervorruft. Wenn Sie 200 Jahre zurückgehen, woher kamen alle Invasoren? Alle durch die Ukraine. Deswegen bin ich sehr erbost, wenn gesagt wird, dass von der Ukraine keine militärische Gefahr ausgeht. Ja natürlich, von der Ukraine selbst nicht, aber dass es sich um ein strategisches Vorfeld Russlands handelt, ist doch klar. Wie haben die USA in den letzten 100 Jahren reagiert, wenn vor ihrer Haustür eine potenzielle Gefahr entstand? Die haben sich auch nicht um das Völkerrecht gekümmert. Da wird mit zweierlei Maß gemessen. Ungeachtet all dieser Faktoren ist das Ukraineproblem lösbar. Aber es scheint auf beiden Seiten keinen guten Willen zu geben.

Gehen wir noch ein weniger südlicher auf der Landkarte. Hatten Sie jemals den Eindruck, dass der Arabische Frühling zu einer echten Demokratisierung im Nahen Osten führt?

Ich war nie euphorisch, muss ich gestehen. Und das aus einem einfachen Grund: Was sind wesentliche Elemente einer funktionierenden Demokratie? Es geht nicht darum, dass die Mehrheit entscheidet. Bevor man die Mehrheit entscheiden lässt, muss klar sein, worüber sie nicht entscheiden darf. Wenn ich in einem Land wie dem Irak plötzlich Wahlen ausschreibe und mir keine Gedanken über die unterschiedlichen Gruppierungen mache, dann wird Schlimmes passieren. Die Mehrheit wird die Minderheit unterdrücken. Man muss kein Prophet sein, um ein solches Szenario vorherzusagen. Wir hatten im Nationalratsklub lange vor dem Arabischen Frühling die Nahostexpertin Karin Kneissl zu Besuch. Sie sagte damals etwas sehr bemerkenswertes: Viel wichtiger als Demokratie, ist die Einführung von rechtsstaatlichen Mindeststandards. Das heißt etwa, dass nicht der Onkel verhaftet wird, wenn gegen den Neffen etwas vorliegt. Das ist ausschlaggebender als alles andere. Ich gebe aber zu, man steht oft vor beschissenen Entscheidungen. Ich war für die Intervention der NATO in Libyen, weil glaubhafte Belege vorlagen, dass Gaddafi die Stadt Bengasi mit tausenden Toten zerstört hätte. Aber das Bombardement hat hundert Jahre alte Stammeskulturen neu aufleben lassen. Wenn ich schon meine Fehler aufzähle: Ich war auch für die Waffenlieferungen an die afghanisch-indigene Bevölkerung nach der sowjetischen Invasion.

Das sehen Sie als Fehler?

Man hätte sich einige tausende Tote erspart. Hat sich irgendetwas verändert? Man ist die sowjetische Besatzung losgeworden und die Taliban sind an die Macht gekommen. Hmm, seufz.

Noch einmal zurück nach Österreich: Welche politische Schlagzeile wollen Sie im Superwahljahr 2018 lesen?

Es sollten ein paar Baustellen beseitigt sein. Von der Hypo-Alpe-Adria bis zur Durchsetzung von Energieeffizienz und erneuerbaren Energien. Dass Österreich den Klimawandel nicht ernst nimmt, das geht mir schwer auf die Nerven. Und dass das rot-schwarze Kartell endlich ein Ende hat, das war der einzige Punkt, bei dem ich mit Jörg Haider einer Meinung war. Es ist erstaunlich, wie langsam sich Österreich verändert.

Alexander Van der Bellen im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Nervt es Sie, wenn Sie ständig nach einer möglichen Präsidentschafts-Kandidatur gefragt werden?

Ja, schon. Ich habe dazu alles gesagt, was zu sagen ist. Die Wahlen finden erst in einem Jahr statt und die Kandidaten stellen sich üblicherweise zum Jahreswechsel vor. Warum soll man zu Amtszeiten von Heinz Fischer diese Debatte lostreten?

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Ich möchte gerne mit Ferdinand Lacina auf einen Kaffee gehen, um mir die Geschichte von Professor Borodajkewycz erzählen zu lassen. Nach 1945 saßen an den Universitäten viele politisch Neutrale, Stockkonservative, Reaktionäre und Altnazis. Aber keine Juden und praktisch keine Sozialdemokraten. Und dieser Borodajkewycz war ein Nazi und Antisemit, der an der Hochschule für Welthandel unterrichtete. Ferdinand Lacina studierte dort und stenographierte gemeinsam mit ein, zwei anderen bei den Vorlesungen. Das hat er dann publik gemacht. Daraufhin kam es zu Demonstrationen in Wien, bei denen ein Pensionist, der gegen Borodajkewycz demonstriert hat, zu Tode gekommen ist. Das war Ernst Kirchweger. Lacina als Augenzeugen dieser Geschichte würde ich sehr gerne zuhören.

Vielen Dank für das Gespräch!