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Sonja Ablinger: Die SPÖ vergisst ihre frauenpolitische Pflicht (Bild: Ines Mahmoud)

Sonja Ablinger: Die SPÖ vergisst ihre frauenpolitische Pflicht

Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und kritisiert offen die Missstände der SPÖ: Sonja Ablinger saß acht Jahre lang im österreichischen Parlament und verschrieb sich bereits in ihrer frühen Jugend dem Kampf um Gleichstellung und Gleichberechtigung. Im Interview spricht sie über das vergessene Erbe von Johanna Dohnal, eine beunruhigende SPÖ-Frauenpolitik, Frauenhass in der Gesellschaft und das leidige Kopftuch.

In einem Interview mit dem Onlineportal „turi2“ fragte ein Journalist die neue Gala-Chefredakteurin, ob sie sich hochgeschlafen hätte. Warum können solche Fragen im Jahre 2015 gestellt werden?

Ich glaube, dass das zum Teil schlimmer wird. Wir merken seit geraumer Zeit, dass es einen wachsenden Antifeminismus gibt. Das ist in Zeiten von Verteilungskämpfen nicht überraschend. Mittlerweile finden sich dieser Frauenhass und diese Platzzuweisungen an Frauen auch in den Mainstream-Medien. Bei den mehrheitlich männlich besetzten Chefredaktionen findet vermutlich selten ein feministischer Diskurs statt. Wenn wir uns etwa das jüngste Cover des „profil“ mit der Überschrift „Brauchen Frauen eine strenge Hand?“ ansehen. Das wird dann mit der Freiheit der Provokation gerechtfertigt. Ich glaube nicht, dass man „Brauchen Juden Diskriminierung?“ titeln würde.

Kurz zuvor gab es ein ähnliches Cover mit dem Titel „Was den Islam gefährlich macht“…

Genau, mit den Muslimen war es ähnlich. Dieses Treten nach unten möchte ich fast sagen. Ich beobachte  seit Jahren eine zunehmende negative Haltung à la „was wollen die Frauen noch“. Was völlig absurd ist, weil die Ungleichheiten wieder stärker gewachsen sind. Die Lohnunterschiede gleichen sich nicht aus, die Beschäftigungsformen der Frauen werden nicht besser und auch bei der Aufteilung von privatem und beruflichem Leben hat sich kaum etwas geändert. Gleichzeitig beginnt eine Diskussion, die den Frauen und Feministinnen die Legitimation entziehen will. Zudem entsteht eine gewisse Brutalität, die etwa in den Onlineforen und in den sozialen Medien zu spüren ist. Bei frauenpolitisch relevanten Themen liest man Kommentare, die voller Hass sind und damit viele Frauen aus den Foren vertreiben, die sich des Themas annehmen.

Ein weiteres Beispiel ist die Anti-Sexismus-Kampagne #aufschrei, die sich mit einer stern-Autorin solidarisierte, weil sie sich gegen das sexistische Verhalten eines Politikers öffentlich äußerte. Für ihre Offenheit wurde sie massiv angefeindet. Die Hashtag-Kampagne brachte viele Frauen dazu, über ihre Begegnungen mit Alltagssexismus von Erniedrigungen bis hin zu sexuellen Belästigungen zu berichten. Zugleich gab es eine Diskussion, was denn dieser Aufschrei soll, weil das ja alles nur ein Spaß und eine Form des Flirtens sei. Da wird spürbar, wie sehr die grundsätzliche Gleichheit von Frauen und Männern keine Selbstverständlichkeit ist.

Bild: Ines Mahmoud
Bild: Ines Mahmoud

Wo liegen die Gründe dafür?

Ich denke, es hat auch mit dem neoliberalen Strukturumbau in Richtung Wettbewerbsgesellschaft zu tun. Das sollte nicht unterschätzt werden. Wenn der Wohlfahrtsstaat zurückgebaut wird, ist es für viele schwieriger ihr Leben zu sichern. Parallel dazu tritt die Frauenbewegung immer mehr ins Hintertreffen. Ich selbst bin politisch in den 80-er Jahren aufgewachsen, also eine klassische Johanna Dohnal Feministin. Damals gab es viele öffentliche Debatten, wie etwa über das Gewaltschutzgesetz, die die Meinungen über Frauenrechte beeinflusst haben. Wenn so etwas nicht mehr stattfindet, dann erhalten die Stimmen eine größere Bühne, die Frauenrechte nicht wirklich für relevant halten.

Das ist eine sehr pessimistische Situationsanalyse. Sehen Sie in Europa ein Licht am Ende des Tunnels?

Wie so oft sehe ich das in den skandinavischen Ländern. Dort gibt es eine egalitärere Frauenpolitik, da es seit jeher eine Selbstverständlichkeit ist, dass Frauen am Arbeitsleben teilnehmen. Das bedeutet, dass der Staat die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung stellt. Die Frage von Beruf und Familie ist für Frauen und Männer gleichermaßen relevant. Diese Länder sind uns gut 30 Jahre voraus, weil sie sich viel früher um Rechtsansprüche bemüht haben. Frauen haben viel mehr Möglichkeiten, um ökonomisch unabhängig zu leben. Das ist hierzulande nicht der Fall. Es muss gewährleistet sein, dass Frauen ein Recht auf eine eigenständige Existenzsicherung haben. In Österreich können sie von ihrem Einkommen kaum unabhängig leben.

Erinnern Sie sich an einen Schlüsselmoment, der für ihre feministische Lebenseinstellung maßgeblich war?

Meine Einstellung hat sich dadurch entwickelt, dass ich relativ früh in die sozialdemokratische Schülerorganisation kam, wo ich mich mit Feminismus und Frauenpolitik auseinandersetzte. Tatsächlich gab es aber auch den einen Moment: Als ich mit 14 Jahren auf meine erste große Friedensdemonstration ging, lauschte ich einer Rede von Johanna Dohnal. Sie konnte mir so eindringlich erklären, dass die Ängste, die ich damals hatte – vor allem die eines Nuklearkriegs – nicht naiv sind, sondern politisch bekämpft werden können. Das hat mich damals sehr berührt. Johanna Dohnal konnte so gut erklären, warum so viele Probleme mit den gegebenen Strukturen zu tun haben. Wie etwa die Behandlung von Mädchen in der Schule, die Anmache auf der Straße oder das dominante Auftreten von Männern in der Partei. Das war alles sehr prägend für mich.

Wird die heutige SPÖ dem Erbe von Johanna Dohnal gerecht?

Nein. Ein jüngstes Beispiel war sicherlich die Debatte um die Quotenregelung. Die Quote ist mehr als eine Prozentrechnung. Der Umgang der Partei damit ist ein Zeichen dafür, dass das wofür Johanna kämpfte an Bedeutung verloren hat. Ich habe generell das Gefühl, dass das Interesse an Gleichstellungspolitik in der SPÖ schwindet. Es war ein großer Fehler das einst eigenständige Frauenministerium in das Bildungsministerium einzugliedern. Damit geht es verloren und das sieht man auch, weil man immer weniger vom Frauenministerium hört.

Bild: Ines Mahmoud
Bild: Ines Mahmoud

Hat das mit dem neoliberalen Wandel zu tun, der auch die Sozialdemokratie beeinflusst?

Das Einschlagen dieses so genannten dritten Weges, also das nur leichte Abfedern des Sozialabbaus, hat viele Grundpfeiler der Sozialdemokratie gelockert. Und darunter fällt auch die Frauenpolitik. Eva Kreisky sagte einst, dass der Wohlfahrtsstaat immer denjenigen zur Seite steht, die wenige Chancen haben. Dadurch, dass dieser immer mehr unter Druck kam, ist die Eigenständigkeit von Frauen schwieriger geworden. Ein Beispiel aus den 80-er Jahren: Ein wesentlicher Punkt war, dass alleinerziehende Frauen über staatliche Unterstützungen eigenständig leben konnten. Da gab es neben dem Karenzgeld auch weitere Zuschüsse. Diese Sozialleistungen sind Schritt für Schritt gekürzt worden. Da hat die Sozialdemokratie mit  der Begründung „wir müssen effektiver und moderner sein“ am Sozialstaat rück- und abgebaut. Nicht zu unterschätzen ist auch die schwarz-blaue Regierung, die Frauenpolitik durch Familienpolitik ersetzte und als höchstes Symbol einen Mann als Frauenminister einsetzte. Zudem wurden Frauenpensionen massiv gekürzt. Nach dieser politischen Wende  hat die SPÖ nur sehr wenig politisch aufgearbeitet.

Ist es dann nicht umso unverständlicher, dass sich immer mehr Sozialdemokraten für Gespräche mit der FPÖ öffnen?

Ich bin mir da nicht sicher, dass das so viele sind. Für mich ist das einfach undenkbar. Eine Sozialdemokratie, die von sich behauptet offen für eine Koalition mit der FPÖ zu sein, kann den Laden schließen. Die alleinige Behauptung, nicht mit den Hetzern zu koalieren, ist aber zu wenig. Sehen wir uns das Frauenbild der Freiheitlichen Partei oder deren Vorstellungen einer Justiz oder Kulturpolitik an. Es gibt so viele Felder, wo sie ein nationalistisches, rechtskonservatives, anti-europäisches und autoritäres Staatsverständnis hat. Und das ist keinesfalls mit sozialdemokratischen Ideen kompatibel.

Gehen wir ein Stück raus aus Österreich. Die internationale Musikindustrie strotzt vor weiblicher Freizügigkeit. Glauben Sie, dass diese Künstlerinnen frauenpolitische Ziele verfolgen?

(lacht) Das müssen Sie sie schon selber fragen. Als Feministin und Frauenpolitikerin finde ich etwas anderes viel wesentlicher. Diese Industrie ist extrem männlich dominiert, Frauen haben hier grundsätzlich viel weniger Chancen, um auf die Bühne zu kommen. Natürlich ist das ein sehr harter Verdrängungskampf, der für Frauen sehr schwer zu führen ist. Sehen Sie sich die Festivals an, da werden kaum Frauen eingeladen. Da ist übrigens im Theater nicht viel anders. Als ich im Parlament Kultursprecherin war, habe ich mir alle Regisseurinnen in den großen deutschsprachigen Theatern angesehen. Raten Sie einmal, wie viel es da gab?

Ich muss sagen, ich habe bislang nur sehr wenige Frauenstimmen aus diesem Sektor gehört. 15-20%?

Would be nice. Es sind fünf Prozent. Auch wenn das heute etwa mit einer Frau an der Spitze des Wiener Burgtheaters besser wird, wurden  viele Spielsaisonen mehrmals hintereinander keine Regisseurin oder Autorin eingeladen.

Bleiben wir in der Musikindustrie. Große Teile des modernen Hip-Hops degradieren die Frau zu einem Sexobjekt. Sehen Sie hier einen Ausweg?

Solche Dinge widerspiegeln reale Verhältnisse. Das hat einiges mit dieser bereits zuvor erwähnten Platzzuweisung der Frau zu tun. Einen Ausweg kann es nur über eine direkte Unterstützung der Frauen geben. Nur sie selbst können ihren Platz einfordern.

Stichwort Konsumpolitik: Rosa Shampoos für die Mädchen, blaue für die Jungs. Ist es nicht langsam Zeit für einen wirtschaftsorientierten Feminismus?

Es gab immer wieder Kampagnen und heftige Gegenreaktionen. Mein Mann war bis vor kurzem Vorsitzender der Kinderfreunde Oberösterreich, die einst die Themen Schultasche und Faschingskostüme thematisierten. Da gab es eine große Erregung und, Debatte zugleich. So etwas gibt es immer wieder. Aber Sie haben sicherlich Recht, dieses ökonomische Denken wird stärker. Als ich vor kurzem am ehemaligen Kindergarten meines Sohnes vorbeiging, waren fast alle Mädchen in Rosa gekleidet. Daraufhin meinte die Pädagogin, dass die Situation manchmal furchtbar ist, weil diese Mädchenmode eben auch eine Zementierung von Rollenklischees und Rollenbildern sei.

Bild: Ines Mahmoud
Bild: Ines Mahmoud

Themenwechsel: Wie bewerten Sie den innerfeministischen Diskurs zum Thema muslimische Frau bzw. Kopftuch?

Spannender ist doch, was eine Frau im Kopf hat und nicht auf dem Kopf. Diese Konzentration auf einen Quadratmeter Stoff verstehe ich nicht. Wie müssen sich Frauen fühlen, wenn ständig darüber gesprochen wird, was sie auf dem Kopf tragen. Es wird viel zu viel über Musliminnen geredet statt mit ihnen. Ich habe vor einigen Jahren, als ich politisch noch aktiv war, einige Runde Tische zu dem Thema veranstaltet. Dieses sich austauschen führt dazu, dass wir auch miteinander klüger werden und uns auf Augenhöhe begegnen. Es gibt ja auch Musliminnen, die finden, dass das Kopftuchtragen falsch ist. Ja, aber diese Debatte ist so unnötig.

Der Großteil der muslimischen Frauen, die bei uns leben, hat sich ganz anderen Herausforderungen zu stellen. Sie sind in extrem schlechten Arbeitsverhältnissen, erhalten ein Einkommen, das zum Weinen ist und werden arbeitsrechtlich hintergangen. Ganz zu schweigen von der Diskriminierung und Entwürdigung auf Ämtern. Da spielt diese Kopftuchdebatte eine Rolle, weil man Frauen damit einen Stempel aufdrückt. Wenn das Wort Muslimin in der Zeitung vorkommt, sehen Sie immer eine Frau mit Kopftuch von hinten. Das führt zu einer unglaublichen Abwertung dieser Frauen.

Wann wird es in Österreich die erste Bundeskanzlerin oder Bundespräsidentin geben?

(lacht) Zurzeit sieht es nicht so aus, dass die Parteien darauf setzen, dass es Frauen und Männer gleichermaßen in dieser Welt gibt. Das sieht man am Rückgang des Frauenanteils im Parlament. Die Gleichstellung in einer Gesellschaft hat aber nichts mit einer Bundeskanzlerin oder einer Bundespräsidentin zu tun. Das sieht man ja an einer Angela Merkel oder Margaret Thatcher.

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Wir hatten mit den SPÖ-Frauen noch vor einiger Zeit das Projekt „Unerhört“ organisiert, wo wir mit vielen Frauen in prekären Lebenssituationen sprachen. Da ging es vor allem um Frauen mit Migrationshintergrund, die in Putzfirmen angestellt sind oder die eine Mindestpension beziehen. Was die erleben ist unerhört und es ist unerhört, dass sie das erleben müssen. Wenn sich etwa eine muslimische Frau überlegen muss, ob sie ihr Kleinkind alleine in die Volksschule schickt oder ihren Job verliert, weil der Chef keine Rücksicht nimmt, dass sie nicht um sechs Uhr früh in der Arbeit sein kann. Bei diesen Frauen, die keine Lobby haben und ausgepowert sind, da würde ich sehr gerne nachhaken. Denn da kann man noch sehr viel für die eigene Frauenpolitik lernen.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Interview mit Robert Misik (Bild: Wolfgang H. Wögerer)

Misik: Die fehlende Glaubwürdigkeit der Linken

Robert Misik ist mehr als nur ein Intellektueller innerhalb des linken politischen Spektrums. Mit seinen wortwitzigen und pointierten Videoblogs auf derStandard.at unterhält er wöchentlich ein breites Publikum. Im Interview spricht er über das Fehlen einer linken Wirtschaftsalternative, übertriebener Hysterie beim Thema TTIP und einem linkspolitischen Lichtblick in der österreichischen Regionalpolitik.

Stimmt die Hypothese von Yuval Harari, wonach die Wirtschaft den Menschen nicht mehr brauche?
Nein, denn dafür sprechen keine Fakten. Wenn wir uns die Wirklichkeit und nicht irgendwelche Hirngespinste ansehen, dann erkennen wir rasch, dass sich die Beschäftigungsquote, also der Anteil der Bevölkerung die Lohnarbeit nachgeht permanent ausweitet – man denke allein an die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit. Trotz Automatisierung treten immer mehr Menschen in den Produktionsprozess ein. Es ist einfach eine empirische Tatsache: Automatisierung führt zur Steigerung der Produktivität, aber nicht generell zur Ersetzung von Menschen durch Maschinen.

Sehen Sie keine Bedrohung für Beschäftigungsarten, die durch automatisierte Systeme obsolet werden?
Ich sehe keinen Strukturwandel, der dazu führt, dass weniger Menschen am Produktionsprozess beteiligt sind als früher. Historisch gesehen hat sich eine derartige Bedrohung trotz Technisierung nicht bewahrheitet. Es stimmt natürlich, dass es zu einer sinkenden Nachfrage in bestimmten Ökonomien für schlecht qualifizierte Arbeitnehmer kommt. Diese sind nicht nur durch die Automatisierung bedroht, sondern auch durch die Verlegung von Billigproduktion nach Südost-Asien. Das muss man sich dann im Detail ansehen, weil natürlich auch neue Jobs für schlecht qualifiziertes Personal, etwa im Bereich der persönlichen Dienstleistungen, entstehen. Eines ist aber ganz sicher richtig: Der Druck auf ungelernte Beschäftigte ist heute sicherlich größer als vor einigen Jahrzehnten, sie haben größere Schwierigkeiten, Jobs zu finden, und wenn sie welche finden sind diese sehr schlecht bezahlt.

Wie sieht unser ökonomisches Leben im Jahr 2030 aus?
Keine Ahnung (lacht). Derartige Prognosen halte ich nicht für klug. Neben einem technologischen Fortschritt, der nur schwer voraussagbar ist, gibt es den schwer einschätzbaren gesellschaftspolitischen Wandel. Hätte man uns im Jahre 1990 gefragt, wo wir 2010 stehen werden, wären wir bei vielen Dingen falsch gelegen.

Was ist an der Grundidee des Neoliberalismus falsch, einen antikommunistischen und antikapitalistischen Mittelweg zu gehen?
Wann soll das die Grundidee des Neoliberalismus gewesen sein?

Wenn wir uns etwa die Diskussionen vor dem zweiten Weltkrieg ansehen, wie den Gesprächsgipfel Colloque Walter Lippmann.
Da kommen wir in die Sphäre der Begriffsklauberei und Haarspalterei. Der Begriff des Neoliberalismus hat in den vergangenen 50 Jahren sein Gesicht verändert. Ursprünglich meinte der Begriff die Schule des Ordoliberalismus in Deutschland, die eigentlich dem heutigen Verständnis der sozialen Marktwirtschaft entspricht. Also sozialen Ausgleich, Bekämpfung von Monopolen und das Verhindern von Privilegien für mächtige Kapitalgruppen. Damals bedeutete der Begriff das Gegenteil von unserem heutigen Verständnis von Neoliberalismus. Seit 1970 handelt es sich um eine free-market und laissez-faire Ideologie, wonach Märkte so frei wie möglich agieren sollen. Wenn dabei manche unter die Räder kommen, dann ist es laut dieser Denkweise eine gerechte Marktentscheidung. Es hat keinen Sinn, wenn manche besserwisserisch meinen, dass Neoliberalismus etwas anderes bedeutet. Ein Begriff heißt das, was er in dem Moment für einen Großteil der Menschen, die ihn im Sprachgebrauch nutzen, bedeutet. Alles andere ist einfach nur Scholastik.

Woran liegt es, dass trotz der massiven Wirtschaftskrise neoliberale Parteien in Europa Wahlen gewinnen?
Es gibt nie nur einen Grund. Die Welt ist komplex und daher hat alles, was geschieht, multikausale Ursachen. Ein Grund für das Aufkommen der Marktideologie des Neoliberalismus ist mit Sicherheit, dass der keynesianische Mainstream in den 1970-er Jahren an seine Grenzen stieß und aufkommende Krisenerscheinungen nicht erklären konnte. Zugleich standen die neoliberalen Kräfte mit ihrem Konzept parat, während die sozialistische und sozialdemokratische Linke selbst an sich zu zweifeln begann. Jedoch fehlte es an eigenen Modernisierungskonzepten und so entwickelten sie sich ein bisschen in die Richtung des langsam entstehenden neoliberalen Mainstreams. Jetzt, nachdem uns der Neoliberalismus – simpel gesagt – die größte Wirtschaftskrise seit den 1930-er Jahren eingebrockt hat, ist es für die Linke schwierig darauf zu reagieren.

Hat das mit einer mangelnden Vermarktung von Alternativkonzepten zu tun oder gibt es die gar nicht?
Linke generell und Sozialdemokraten im Besonderen haben sich in den letzten 30 Jahren relativ wenig mit Ökonomie beschäftigt. Selbst wenn es ein Konzept gibt, mangelt es an Glaubwürdigkeit, da man zuvor jahrelang das gegenteilige Konzept mittrug. Eine erfolgreiche sozialdemokratische Politik war immer eine populäre und damit für die normalen Leute. Diese Glaubwürdigkeit geht aber verloren, wenn Mittelschicht-Bubis sich anziehen und so sprechen wie die technokratischen Eliten. Das sind alles Gründe, warum die demokratische und gemäßigte Linke es schwerer hat, an die Erfolge aus der Vergangenheit anzuknüpfen.

Robert Misik im AudiMax 2009 (Bild: Nick Wolfinger)
Robert Misik im AudiMax 2009 (Bild: Nick Wolfinger)

Kann die radikale Linke, wie etwa die SYRIZA in Griechenland, die neoliberale Hegemonie durchbrechen?
Man sollte hier nicht übertreiben oder je nach Standpunkt in Euphorie ausbrechen. Griechenland ist ein Sonderfall, weil die klassische Sozialdemokratie dort zusammenbrach. Diesen Platz hat eine radikale Linke vollständig ausgefüllt. Das ist etwas anderes als der plötzliche Aufstieg einer unabhängigen Linken in Spanien, die aber neben einer sozialdemokratischen Linken existiert. Das führt dazu, dass sich beide bekämpfen. In Deutschland etwa sehen wir eine sehr, sehr rechts gewordene SPD, die in Wirklichkeit bei wirtschaftspolitischen Konzepten rechts vom Internationalen Währungsfonds steht. Gleichzeitig gibt es eine politische Linke, in Form der Linkspartei, die das politische Spiel in Deutschland auch nicht lebendiger macht. Hier muss von Land zu Land unterschieden werden, Griechenland bleibt ein Sonderfall.

Thema Konsumkultur: Verliert Europa bei Unterzeichnung des transatlantischen Freihandelsabkommen einen Teil ihrer Identität?
Da ist eine große Portion an paranoider Übertreibung dabei. Hier wird nicht wirklich etwas eingeführt, das es nicht schon gibt. Es ist ja nicht so, dass es zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union dramatische Handelsbarrieren wie Schutzzölle gibt. Wir haben einen de facto freien Handel innerhalb dieser Zone. Die Grundidee von TTIP ist vorhandene Handelshemmnisse zu beseitigen, die automatische Produktzulassungen etwa in beiden Wirtschaftsräumen für Unternehmen erschweren. Das Hauptproblem, und daher gehört es bekämpft, ist die Privilegierung von großen Wirtschaftsakteuren. Es ist verrückt, dass ich als Unternehmer die Regierung eines Landes, das nicht meinem Hauptsitz entspricht, aufgrund von wirtschaftspolitischen Gesetzen klagen kann. Derartige Regelungen auf Volkswirtschaften wie die USA oder die Eurozone umzulegen, sind absurd.

Kommen wir nach Österreich: Gibt es hierzulande noch eine “echte“ linke Politik?
(lacht) Das kommt natürlich darauf an, was man unter echter linker Politik versteht. Gerade in Bezug auf die Euro-Krise ist Faymann im Vergleich zur holländischen oder deutschen Politik ein grundsatzorientierter Sozialdemokrat, geradezu eine Lichtgestalt. Gleichzeitig sehe ich keine erfolgsversprechende linke Politik in Österreich. Wobei auch hier differenziert werden sollte: Rot-Grün in Wien sind sicherlich linker und erfolgreicher als anderswo. Das gilt sicherlich nicht für den Bund und jedes einzelne Bundesland, das im Detail zu beurteilen ist. Die Sozialdemokratie in Österreich ist als Ganzes sicherlich eine sozialistischere Sozialdemokratie als die meisten in Europa. Sie hat aber ein dramatisches Problem mit ihrer Führung im Bund und das bereits seit dem Abtreten von Vranitzky. Auch davor war nicht alles Gold, was glänzt, aber seither ist alles Kohle, was nicht glänzt.

Warum lassen sich linke Parteien derart von der Integrationsdebatte vereinnahmen?
Die Situation ist nicht einfach. Seit ungefähr 30 Jahren gibt es eine xenophobe Stimmung in diesem Land. Begonnen hat es mit den Grenzöffnungen und den Migrationsströmen Ende der 1980-er Jahre. Dagegen zu argumentieren ist sicherlich schwer, insbesondere wenn eine starke rechtspopulistische Partei diese Stimmung benützt. Von daher gibt es immer eine Wackeltaktik zwischen Dagegenhalten und Zugehen gegenüber den Rechten. Mit dieser Ungenauigkeit begibt man sich in ein Dilemma, dem man eigentlich zu entfliehen versucht. Natürlich bringt die Massenmigration kulturelle Differenzen und neue soziale Unterklassen mit sich. Darüber nicht zu sprechen, weil man Angst hat in die Rassismus-Schiene zu rutschen, macht die Sache nicht besser. Diese Hemmung über Probleme offen zu sprechen, führte uns in die Scheiße, in der wir seit Jahrzehnten sitzen.

Die Bundeshauptstadt wählt noch in diesem Jahr. Bleibt Rot-Grün im Sattel?
Ich glaube Rot-Grün hat gut regiert, das war schon ganz in Ordnung. Das Problem ist natürlich, dass diese Koalition aufgrund des Verlusts der SPÖ-Absoluten entstand. Somit sind die Sozialdemokraten nicht gerade mit einer großen Euphorie in diese Regierung gegangen. Dieses Ursprungsproblem, also einen rot-grünen Geist zu entwickeln, haben sie in den vergangenen fünf Jahren nicht gelöst. Ein weiteres Problem ist der Gegenwind aus dem Bund. Menschen wählen bei Landtagswahlen nicht nur aufgrund von regionalen Fragen. Der SPÖ nützt dieser nicht, den Grünen eher schon. Natürlich wird die FPÖ zulegen, aber das hat wenig mit Wien zu tun. Ich denke, dass die Sozialdemokraten für ihre Verhältnisse dramatisch verlieren werden, wobei 40 Prozent werden sie schon bekommen. Die Grünen werden leicht gewinnen, letztlich sind wir dort wo wir immer sind in Wien: 56-60 Prozent stimmen links der Mitte ab.

Falls Alexander van der Bellen kandidiert, ist Österreich bereit für einen “grünen“ Staatspräsidenten?
Alexander van der Bellen spielt mittlerweile in einer anderen Liga und daher sehe ich ihn nicht als “grünen“ Kandidaten. Es hängt natürlich von den Gegenkandidaten ab, wenn etwa die SPÖ einen Hundstorfer und die ÖVP einen Pröll ins Rennen schicken. Dann wird die persönliche Reputation eines van der Bellen nicht über 20 Prozent hinausragen. Wenn aber eine oder beide Parteien sagt, uns ist diese Wahl nicht so wichtig, dann besteht natürlich eine Chance. Oder wenn die Sozialdemokraten offen seine Kandidatur unterstützen, dann hat er den Sieg in der Tasche. Aber das glaube ich nicht (lacht).

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?
Na, da gibt es viele. Ich würde beispielsweise Frau Merkel oder Herrn Schäuble gerne fragen, ob sie persönlich wirklich an ihre bizarre Austeritätspolitik glauben, oder ob sie nicht insgeheim wissen, dass diese eine Sackgasse ist und aus bloßen machtpolitischen Gründen an einer gescheiterten Politik festhalten, wissend, dass diese Europa ins Unglück stürzt.

Danke für das Gespräch.

Strolz: Wir haben uns von der Euphorie tragen lassen (Bild: Christoph Hopf)

Strolz: Wir haben uns von der Euphorie tragen lassen

Mathias Strolz nennt Bildungspolitik seine Herzensangelegenheit und gründet mit den NEOS eine neue Parlamentskraft in Österreich. Nach einem Jahr der Euphorie kommt die erste Ernüchterung bei Landtagswahlen und auf europäischer Ebene. Bei uns spricht der Parteichef offen über Fehler, persönliche Beleidigungen und darüber, warum die Menschen nach einfachen statt zielführenden Lösungen suchen.

Wovor haben Sie am meisten Angst?
Das werde ich öffentlich nicht sagen, das halte ich nicht für gescheit.

Aber es gibt Dinge, die einen beunruhigen?
Ja, die gibt es, aber die sind sehr persönlich.

Hirschkäfer, Bäume besingen, erheiterter Zustand: Wie geht ein Politiker mit persönlichen Beleidigungen um?
Hmm, ich übe noch. Da gibt es ja auch ganz unterschiedliche Phänomene: Die Künstlergruppe Maschek finde ich beispielsweise lustig, ich denke das ZIB2-Interview mit Armin Wolf ist mehr als 260.000 Mal angesehen worden. Das ist handwerklich eindrucksvoll und da bemüht sich jemand kreativ zu sein. Die Abteilung, die versucht persönlich verletzend und ehrabschneidend zu agieren, diese stecke ich nicht so leicht weg. Ich habe viel erlebt im vergangenen Jahr und bin dankbar für die Erfahrungen. Aber natürlich war die Kränkung phasenweise sehr groß und der Umgang damit nicht immer einfach.

Gibt es einen Ort, der hilft darüber hinwegzukommen?
Ja, natürlich. Hätte ich die Gegenwelt der Familie nicht und würde ich nicht regelmäßig Sport betreiben, dann könnte ich das nicht machen. Diese Gegenwelten brauche ich ganz dringend und die Kinder sind dazu besonders gut geeignet, weil sie so kompromisslos sind. Du kommst zur Familie und dann bist du da, das ist auch nicht verhandelbar. Ja, das ist gemeinsam mit dem Sport und der Natur sehr wichtig für mich. Das hilft alles gegen die Kränkungen, aber letztlich musst du es mit dir selbst ausmachen. Weil das in mir stattfindet und das bedeutet für mich eine neue Etappe in meiner Persönlichkeitsentwicklung.

Gibt es etwas, woran neben Ihnen nur sehr wenige Menschen felsenfest glauben?
Ich glaube nicht, dass ich hier so einzigartig bin. Ich glaube allerdings, dass ich einer der ganz wenigen in der Politik bin, der über den eigenen Glauben redet. So wie es früher verpönt war über Krankheiten zu sprechen, so ist es heute eher verpönt, Auskunft über seinen spirituellen Zugang zur Politik zu geben. Das wird ganz schnell lächerlich gemacht und ins esoterische Eck gestellt. Ich habe für mich entschieden, dass ich hier vorsichtiger werden will. Aber ich werde es nicht aufgeben, weil es ein wichtiger Teil von mir ist. Ein Beispiel: Aus persönlichen Gesprächen weiß ich, dass auch andere Spitzenpolitiker fasten waren. Auch mehrmals am selben Ort wie ich. Aber sie reden nicht darüber und das ist in Ordnung. Jeder und jede nach seiner oder ihrer Vorstellung. Ich persönlich halte es für richtig und wichtig über Dinge, die mich als Politiker ausmachen, zumindest punktuell zu sprechen. Und wenn ich gefragt werde, gebe ich eine Antwort.

Bild: Christoph Hopf
Bild: Christoph Hopf

Apropos Religion, warum zucken Sie beim Anblick bärtiger Männer?
Es geht um Authentizität und für mich war es wichtig zum Ausdruck zu bringen, dass ich in den Tagen nach den schrecklichen Anschlägen von Paris tatsächlich anders mit der U-Bahn gefahren bin. Ich glaube es ist wichtig das auch anzusprechen, weil ich überzeugt bin, dass 90% der Bevölkerung ebenfalls so empfindet. Es gibt sicherlich die zehn Prozent, an denen geht so ein Anschlag wie in Paris spurlos vorbei. Aber da frage ich mich auch, was die dann überhaupt spüren. So ein Gefühl der Beklemmung muss zugelassen werden. Aber nur weil mich ein Gefühl von Angst überkommt, heißt das nicht, dass die Angst mich lenkt. Es wäre gleichzeitig falsch diese Gefühle zu leugnen. Genau so sind wir in Österreich mit der Integrationspolitik in den vergangenen Jahrzehnten umgegangen. Ignoranz, Empfindungen nicht einmal wahrnehmen. Da will  ich andere Wege gehen. Das ist natürlich auch eine Offenbarung, die mich angreifbar macht. Aber letztlich möchte ich die Menschen mitnehmen auf den Weg, der eine Lösung sein kann. Das Miteinander soll vor das Gegeneinander gestellt werden, das Gemeinsame vor das Trennende, das Positive vor das Negative. Emotionalität muss ich aber schon zulassen.

War es rückblickend ein Fehler, den bekennenden Atheisten Niko Alm zum NEOS-Religionssprecher zu ernennen?
Die Übergabe an mich war Teil einer Neuverteilung verschiedener Themengebiete, auch wenn das die Medien verständlicherweise anders interpretieren. Ich habe schon einmal erklärt, dass es damals nach unserem Parlamentseinzug sehr schnell gehen musste. 40-50 Bereiche waren mit Experten und Expertinnen zu besetzen, wir waren aber nur zu neunt. Ein wichtiges Kriterium war die jeweilige persönliche Sachkompetenz in dem jeweiligen Feld. Zweifelsohne hat Niko Alm in Sachen Religion ein extrem hohes Know-How und viele Diskussionen, die er geführt hat, haben mich beeindruckt. Und er war niemals polemisch dabei und dafür schätze ich ihn sehr. Über die Zeit vor den NEOS und seine Agitation, darüber lässt sich streiten. Ich sehe natürlich seine persönlichen Ansichten, aber das deckt sich nicht mit unserem Parteiprogramm. So wie sich mein persönlicher Glaube nicht aus dem Parteiprogramm speist. Im NEOS-Programm steht nun einmal nicht „Wir sind Katholen“, genauso wenig ist angeführt, dass wir Nudelsieb-Anhänger sind.

Kommen wir zur Wirtschaft: Der Universalhistoriker Yuval Harari sagte jüngst, dass die Wirtschaft in Zukunft den Menschen nicht mehr brauche. Wie sieht das eine Partei, die sich zum Neoliberalismus bekennt?
Eines vorweg: Wir sind nicht im neoliberalen Spektrum verankert, so wie der Neoliberalismus heute verstanden wird. Betrachten wir den Begriff historisch, dann war er in den 1950er-Jahren ein Synonym für soziale Marktwirtschaft. Und dazu stehen wir, denn wir wollen eine neue ökologisch-soziale Marktwirtschaft. Wir sind eine Bürgerbewegung mit einer liberalen Grundhaltung. Das was viele Menschen unter Neoliberalismus verstehen, das verurteilte ich auf das Schärfste. Den ignoranten, egozentrischen, profitsuchenden, über Leichen gehenden Kapitalisten, den weisen wir zurück. Die Wirtschaft ist für die Menschen da und nicht umgekehrt, sie hat dem Menschen zu dienen. Diese Fantasie, dass wir durch die Industrialisierung die 38-Stunden-Woche abschaffen, das hat sich nicht bewahrheitet. Und auch Hararis Prophezeiungen werden so nicht eintreffen. Es werden immer neue Felder aufgehen, die Menschen beschäftigen.

Thema Griechenland: Glauben Sie an ein Aufkommen einer neuen linken Wirtschaftspolitik oder geht es hier mehr um Populismus?
Ich denke, es ist offen, in welche Richtung sich Griechenland bewegt. Letztlich ist es aber eine Links-Rechts-Koalition, auch wenn das rechte Anhängsel vorerst ruhig gestellt ist. Ich glaube nicht, dass es eine ideologische Auseinandersetzung ist. Wenn Tsipras seine Füße nicht auf den Boden bringt, dann gewinnen das nächste Mal eventuell die griechischen Rechtsradikalen. Im Moment ist es verständlicherweise geleitet von der großen Sehnsucht nach einfachen Antworten. Das beschäftigt uns in der Islam- und Integrationsdebatte genauso wie in der wirtschaftspolitischen Debatte. Die Menschen sehnen sich nach einfachen Antworten in einer Welt, die volatil, unsicher, komplex und ambivalent ist. Wir wollen hier einen positiven Beitrag leisten, aber wir machen bei diesen plakativen, einfachen Antworten nicht mit.

Zurück nach Österreich: Der Staat bezahlt jährlich mehr als 375 Millionen für Alkoholkranke. Glauben Sie nicht, dass diese Ausgaben bei einer möglichen Cannabis-Legalisierung vollends explodieren?
Nein, das glaube ich nicht. Wir zielen darauf ab, den Missbrauch von Cannabis zurückzudrängen. Zugleich wird es niemals eine drogenfreie Gesellschaft geben. Und der Status Quo ist ein unglaublich verlogener. Wir haben 18.000 Tote jährlich durch Alkohol und ein unendliches Leid in den Familien. Wir haben 14.000 Tote durch Nikotin, aber wir haben kausal durch Cannabis keine Toten. Aber natürlich ist das auch eine potentiell gefährliche Droge, ich will das auch nicht verharmlosen. Wenn wir aber heute runde eine halbe Million Menschen haben, die punktuell Cannabis konsumieren und wenn wir damit eine halbe Million Menschen haben, die punktuell Kontakt mit kriminellen Kanälen haben und kriminelle Taten begehen, dann muss sich eine Gesellschaft Gedanken machen, ob sie den richtigen Umgang damit pflegt. Wir haben kein Patentrezept, aber wir haben einen Diskussionsbeitrag bei einem sehr ernsten Thema geleistet. Ich sage aber auch, dass wir uns zu wenig auf unseren Diskussionsbeitrag vorbereitet haben. Unsere Position aber nur lächerlich zu machen, das halte ich für ignorant oder völlig zynisch.

Es ging Ihnen also mehr um einen Denkanstoß?
Absolut, weil die Auseinandersetzung der Gesellschaft mit der Welt der Drogen und der Frage, wie sie damit umgehen kann, ein ernsthaftes Anliegen von uns ist.

Bild: Christoph Hopf
Bild: Christoph Hopf

War das Abschneiden bei den jüngsten Wahlen in Vorarlberg und Niederösterreich eine Enttäuschung?
Ich glaube der Hype war einfach vorbei, unsere Mitbewerber haben sich gut auf uns eingestellt und Programme gegen uns gefunden. Wir sind in vielem noch nicht gut genug und können der Fremddefinition durch andere Parteien zu wenig kommunikative Kraft entgegensetzen. Da bessern wir uns jeden Tag, aber das ist eine langfristige Aufgabe. Und natürlich hat das auch etwas mit einem Medienzyklus zu tun. Es ist ähnlich wie bei Wachstumsschmerzen. Wenn sie kommen, bringen einem die Vorbereitungen darauf nicht wirklich etwas. Das haben wir erlebt und da müssen wir jetzt durch. Wir haben uns in Zeiten der Euphorie in lichte Höhen tragen lassen und in der Phase, in der es nach unten ging, nahmen wir teils eine depressive Rolle an. Jetzt sind wir aber stabil und 2015 ist das Jahr, in dem wir ankommen. NEOS soll die Gründergeneration überleben und langfristig und über Jahrzehnte an einer Erneuerung Österreichs arbeiten.

Wenn sich bei den kommenden Wahlen Koalitionsmöglichkeiten ergeben, bleiben Sie beim Nein zur FPÖ?
Wir würden mit allen Parteien außer den Freiheitlichen eine Koalition eingehen, mit der FPÖ hingegen nur eine thematische Zusammenarbeit. Für eine Koalition sind unsere Gemeinsamkeiten nicht tragfähig. Wir sind für Europa und für ein Miteinander und haben eine völlig andere Sicht in der Ausländer- und Integrationsfrage. Das sind zwei zentrale Politikfelder und wenn du hier unterschiedliche Ansichten hast, dann solltest du dich nicht in eine Koalition begeben.

Wenn die NEOS jemals eine absolute Mehrheit erlangen, was wäre das erste Gesetz, dass Ihre Partei verabschiedet?
Wir denken stark prozessorientiert, also würden wir eher einen Prozess anstoßen. Und das wäre eindeutig die Einberufung eines nationalen Bildungsdialogs mit dem klaren Ziel, innerhalb eines Jahres gemeinsam eine umfassende Bildungswende einzuleiten. Die Schülerin und der Schüler sollen mit ihren Talenten und Bedürfnissen im Mittelpunkt stehen.

Gibt es hier ein Vorbild?
Es gibt gelungene Reformprozesse in anderen Ländern, Bildung wächst organisch. Daher sind auch die letzten 100 Jahre genauestens zu analysieren und wir schauen uns die Prozesse, wie etwa in den Niederlanden und Dänemark, genau an. Gerade auch die Fehlersuche, wie etwa in Schweden, ist für uns wichtig. Ein einfaches Copy/Paste wird aber nicht möglich sein, das muss allen klar sein. Die Bildung bleibt eine Herzensangelegenheit für mich, solange ich Politik mache.

Abschließend: Wer ist Ihr politisches Vorbild? Aber bitte nicht Bruno Kreisky…
Hach, schade (lacht). Ich habe kein singuläres Vorbild, ich habe Leute die mich inspirieren. Ich habe viel mit Erhard Busek beim Europäischen Forum Alpbach zusammengearbeitet und bewundere sein Engagement für Südosteuropa, seinen Intellekt und seine große Landkarte. Mich inspiriert auch der unternehmerische Zugang eines Christoph Chorherrs und mein Urururgroßvater Franz Michael Felder war selbst Parteigründer. Auch wenn er für mich bislang nicht sehr präsent war, hat er mittlerweile eine große Präsenz in meinem Leben.

Danke für das Gespräch.