Robert Misik ist mehr als nur ein Intellektueller innerhalb des linken politischen Spektrums. Mit seinen wortwitzigen und pointierten Videoblogs auf derStandard.at unterhält er wöchentlich ein breites Publikum. Im Interview spricht er über das Fehlen einer linken Wirtschaftsalternative, übertriebener Hysterie beim Thema TTIP und einem linkspolitischen Lichtblick in der österreichischen Regionalpolitik.
Stimmt die Hypothese von Yuval Harari, wonach die Wirtschaft den Menschen nicht mehr brauche?
Nein, denn dafür sprechen keine Fakten. Wenn wir uns die Wirklichkeit und nicht irgendwelche Hirngespinste ansehen, dann erkennen wir rasch, dass sich die Beschäftigungsquote, also der Anteil der Bevölkerung die Lohnarbeit nachgeht permanent ausweitet – man denke allein an die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit. Trotz Automatisierung treten immer mehr Menschen in den Produktionsprozess ein. Es ist einfach eine empirische Tatsache: Automatisierung führt zur Steigerung der Produktivität, aber nicht generell zur Ersetzung von Menschen durch Maschinen.
Sehen Sie keine Bedrohung für Beschäftigungsarten, die durch automatisierte Systeme obsolet werden?
Ich sehe keinen Strukturwandel, der dazu führt, dass weniger Menschen am Produktionsprozess beteiligt sind als früher. Historisch gesehen hat sich eine derartige Bedrohung trotz Technisierung nicht bewahrheitet. Es stimmt natürlich, dass es zu einer sinkenden Nachfrage in bestimmten Ökonomien für schlecht qualifizierte Arbeitnehmer kommt. Diese sind nicht nur durch die Automatisierung bedroht, sondern auch durch die Verlegung von Billigproduktion nach Südost-Asien. Das muss man sich dann im Detail ansehen, weil natürlich auch neue Jobs für schlecht qualifiziertes Personal, etwa im Bereich der persönlichen Dienstleistungen, entstehen. Eines ist aber ganz sicher richtig: Der Druck auf ungelernte Beschäftigte ist heute sicherlich größer als vor einigen Jahrzehnten, sie haben größere Schwierigkeiten, Jobs zu finden, und wenn sie welche finden sind diese sehr schlecht bezahlt.
Wie sieht unser ökonomisches Leben im Jahr 2030 aus?
Keine Ahnung (lacht). Derartige Prognosen halte ich nicht für klug. Neben einem technologischen Fortschritt, der nur schwer voraussagbar ist, gibt es den schwer einschätzbaren gesellschaftspolitischen Wandel. Hätte man uns im Jahre 1990 gefragt, wo wir 2010 stehen werden, wären wir bei vielen Dingen falsch gelegen.
Was ist an der Grundidee des Neoliberalismus falsch, einen antikommunistischen und antikapitalistischen Mittelweg zu gehen?
Wann soll das die Grundidee des Neoliberalismus gewesen sein?
Wenn wir uns etwa die Diskussionen vor dem zweiten Weltkrieg ansehen, wie den Gesprächsgipfel Colloque Walter Lippmann.
Da kommen wir in die Sphäre der Begriffsklauberei und Haarspalterei. Der Begriff des Neoliberalismus hat in den vergangenen 50 Jahren sein Gesicht verändert. Ursprünglich meinte der Begriff die Schule des Ordoliberalismus in Deutschland, die eigentlich dem heutigen Verständnis der sozialen Marktwirtschaft entspricht. Also sozialen Ausgleich, Bekämpfung von Monopolen und das Verhindern von Privilegien für mächtige Kapitalgruppen. Damals bedeutete der Begriff das Gegenteil von unserem heutigen Verständnis von Neoliberalismus. Seit 1970 handelt es sich um eine free-market und laissez-faire Ideologie, wonach Märkte so frei wie möglich agieren sollen. Wenn dabei manche unter die Räder kommen, dann ist es laut dieser Denkweise eine gerechte Marktentscheidung. Es hat keinen Sinn, wenn manche besserwisserisch meinen, dass Neoliberalismus etwas anderes bedeutet. Ein Begriff heißt das, was er in dem Moment für einen Großteil der Menschen, die ihn im Sprachgebrauch nutzen, bedeutet. Alles andere ist einfach nur Scholastik.
Woran liegt es, dass trotz der massiven Wirtschaftskrise neoliberale Parteien in Europa Wahlen gewinnen?
Es gibt nie nur einen Grund. Die Welt ist komplex und daher hat alles, was geschieht, multikausale Ursachen. Ein Grund für das Aufkommen der Marktideologie des Neoliberalismus ist mit Sicherheit, dass der keynesianische Mainstream in den 1970-er Jahren an seine Grenzen stieß und aufkommende Krisenerscheinungen nicht erklären konnte. Zugleich standen die neoliberalen Kräfte mit ihrem Konzept parat, während die sozialistische und sozialdemokratische Linke selbst an sich zu zweifeln begann. Jedoch fehlte es an eigenen Modernisierungskonzepten und so entwickelten sie sich ein bisschen in die Richtung des langsam entstehenden neoliberalen Mainstreams. Jetzt, nachdem uns der Neoliberalismus – simpel gesagt – die größte Wirtschaftskrise seit den 1930-er Jahren eingebrockt hat, ist es für die Linke schwierig darauf zu reagieren.
Hat das mit einer mangelnden Vermarktung von Alternativkonzepten zu tun oder gibt es die gar nicht?
Linke generell und Sozialdemokraten im Besonderen haben sich in den letzten 30 Jahren relativ wenig mit Ökonomie beschäftigt. Selbst wenn es ein Konzept gibt, mangelt es an Glaubwürdigkeit, da man zuvor jahrelang das gegenteilige Konzept mittrug. Eine erfolgreiche sozialdemokratische Politik war immer eine populäre und damit für die normalen Leute. Diese Glaubwürdigkeit geht aber verloren, wenn Mittelschicht-Bubis sich anziehen und so sprechen wie die technokratischen Eliten. Das sind alles Gründe, warum die demokratische und gemäßigte Linke es schwerer hat, an die Erfolge aus der Vergangenheit anzuknüpfen.
Kann die radikale Linke, wie etwa die SYRIZA in Griechenland, die neoliberale Hegemonie durchbrechen?
Man sollte hier nicht übertreiben oder je nach Standpunkt in Euphorie ausbrechen. Griechenland ist ein Sonderfall, weil die klassische Sozialdemokratie dort zusammenbrach. Diesen Platz hat eine radikale Linke vollständig ausgefüllt. Das ist etwas anderes als der plötzliche Aufstieg einer unabhängigen Linken in Spanien, die aber neben einer sozialdemokratischen Linken existiert. Das führt dazu, dass sich beide bekämpfen. In Deutschland etwa sehen wir eine sehr, sehr rechts gewordene SPD, die in Wirklichkeit bei wirtschaftspolitischen Konzepten rechts vom Internationalen Währungsfonds steht. Gleichzeitig gibt es eine politische Linke, in Form der Linkspartei, die das politische Spiel in Deutschland auch nicht lebendiger macht. Hier muss von Land zu Land unterschieden werden, Griechenland bleibt ein Sonderfall.
Thema Konsumkultur: Verliert Europa bei Unterzeichnung des transatlantischen Freihandelsabkommen einen Teil ihrer Identität?
Da ist eine große Portion an paranoider Übertreibung dabei. Hier wird nicht wirklich etwas eingeführt, das es nicht schon gibt. Es ist ja nicht so, dass es zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union dramatische Handelsbarrieren wie Schutzzölle gibt. Wir haben einen de facto freien Handel innerhalb dieser Zone. Die Grundidee von TTIP ist vorhandene Handelshemmnisse zu beseitigen, die automatische Produktzulassungen etwa in beiden Wirtschaftsräumen für Unternehmen erschweren. Das Hauptproblem, und daher gehört es bekämpft, ist die Privilegierung von großen Wirtschaftsakteuren. Es ist verrückt, dass ich als Unternehmer die Regierung eines Landes, das nicht meinem Hauptsitz entspricht, aufgrund von wirtschaftspolitischen Gesetzen klagen kann. Derartige Regelungen auf Volkswirtschaften wie die USA oder die Eurozone umzulegen, sind absurd.
Kommen wir nach Österreich: Gibt es hierzulande noch eine “echte“ linke Politik?
(lacht) Das kommt natürlich darauf an, was man unter echter linker Politik versteht. Gerade in Bezug auf die Euro-Krise ist Faymann im Vergleich zur holländischen oder deutschen Politik ein grundsatzorientierter Sozialdemokrat, geradezu eine Lichtgestalt. Gleichzeitig sehe ich keine erfolgsversprechende linke Politik in Österreich. Wobei auch hier differenziert werden sollte: Rot-Grün in Wien sind sicherlich linker und erfolgreicher als anderswo. Das gilt sicherlich nicht für den Bund und jedes einzelne Bundesland, das im Detail zu beurteilen ist. Die Sozialdemokratie in Österreich ist als Ganzes sicherlich eine sozialistischere Sozialdemokratie als die meisten in Europa. Sie hat aber ein dramatisches Problem mit ihrer Führung im Bund und das bereits seit dem Abtreten von Vranitzky. Auch davor war nicht alles Gold, was glänzt, aber seither ist alles Kohle, was nicht glänzt.
Warum lassen sich linke Parteien derart von der Integrationsdebatte vereinnahmen?
Die Situation ist nicht einfach. Seit ungefähr 30 Jahren gibt es eine xenophobe Stimmung in diesem Land. Begonnen hat es mit den Grenzöffnungen und den Migrationsströmen Ende der 1980-er Jahre. Dagegen zu argumentieren ist sicherlich schwer, insbesondere wenn eine starke rechtspopulistische Partei diese Stimmung benützt. Von daher gibt es immer eine Wackeltaktik zwischen Dagegenhalten und Zugehen gegenüber den Rechten. Mit dieser Ungenauigkeit begibt man sich in ein Dilemma, dem man eigentlich zu entfliehen versucht. Natürlich bringt die Massenmigration kulturelle Differenzen und neue soziale Unterklassen mit sich. Darüber nicht zu sprechen, weil man Angst hat in die Rassismus-Schiene zu rutschen, macht die Sache nicht besser. Diese Hemmung über Probleme offen zu sprechen, führte uns in die Scheiße, in der wir seit Jahrzehnten sitzen.
Die Bundeshauptstadt wählt noch in diesem Jahr. Bleibt Rot-Grün im Sattel?
Ich glaube Rot-Grün hat gut regiert, das war schon ganz in Ordnung. Das Problem ist natürlich, dass diese Koalition aufgrund des Verlusts der SPÖ-Absoluten entstand. Somit sind die Sozialdemokraten nicht gerade mit einer großen Euphorie in diese Regierung gegangen. Dieses Ursprungsproblem, also einen rot-grünen Geist zu entwickeln, haben sie in den vergangenen fünf Jahren nicht gelöst. Ein weiteres Problem ist der Gegenwind aus dem Bund. Menschen wählen bei Landtagswahlen nicht nur aufgrund von regionalen Fragen. Der SPÖ nützt dieser nicht, den Grünen eher schon. Natürlich wird die FPÖ zulegen, aber das hat wenig mit Wien zu tun. Ich denke, dass die Sozialdemokraten für ihre Verhältnisse dramatisch verlieren werden, wobei 40 Prozent werden sie schon bekommen. Die Grünen werden leicht gewinnen, letztlich sind wir dort wo wir immer sind in Wien: 56-60 Prozent stimmen links der Mitte ab.
Falls Alexander van der Bellen kandidiert, ist Österreich bereit für einen “grünen“ Staatspräsidenten?
Alexander van der Bellen spielt mittlerweile in einer anderen Liga und daher sehe ich ihn nicht als “grünen“ Kandidaten. Es hängt natürlich von den Gegenkandidaten ab, wenn etwa die SPÖ einen Hundstorfer und die ÖVP einen Pröll ins Rennen schicken. Dann wird die persönliche Reputation eines van der Bellen nicht über 20 Prozent hinausragen. Wenn aber eine oder beide Parteien sagt, uns ist diese Wahl nicht so wichtig, dann besteht natürlich eine Chance. Oder wenn die Sozialdemokraten offen seine Kandidatur unterstützen, dann hat er den Sieg in der Tasche. Aber das glaube ich nicht (lacht).
Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?
Na, da gibt es viele. Ich würde beispielsweise Frau Merkel oder Herrn Schäuble gerne fragen, ob sie persönlich wirklich an ihre bizarre Austeritätspolitik glauben, oder ob sie nicht insgeheim wissen, dass diese eine Sackgasse ist und aus bloßen machtpolitischen Gründen an einer gescheiterten Politik festhalten, wissend, dass diese Europa ins Unglück stürzt.
Danke für das Gespräch.