Seit mehr als 15 Jahren forscht er zu den Bereichen Islamismus und Demokratie sowie zu den politischen Transformationsprozessen in der Türkei. Cengiz Günay arbeitet am renommierten Österreichischen Institut für internationale Politik (OIIP), das sich unter anderem der außenpolitischen Analyse und der Politikberatung widmet. Im Gespräch analysiert er die jüngste innenpolitische Krise der Türkei, die Situation der Kurdinnen und Kurden und die außenpolitischen Ambitionen des Landes am Bosporus.
Ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ein Diktator?
(lacht) Nein, er ist kein Diktator. Er ist vom Volk gewählt und die Türkei ist trotz aller Probleme und Entwicklungen, die stark zu kritisieren sind, weiterhin ein demokratisches Land. Er ist aber ein Politiker mit einem Hang zum autoritären Handeln und jemand, der die Grenzen der Demokratie stark austestet. Demokratie hat einen bestimmten Rahmen, den die Verfassung bietet, und jede Demokratie ist ausreizbar, es hängt nur damit zusammen, wie weit das System oder einzelne Personen gehen möchten. Erdogan ist sicherlich jemand, der sehr weit geht. Aber ich würde ihn nicht als Diktator bezeichnen.
Woran liegt es, dass die hiesige Medienberichterstattung zu Erdogan regelmäßig Bezeichnungen wie „Regime, Halb-Diktator“ und ähnliche verwendet?
Ich glaube das hat verschiedene Gründe. Ich weiß nicht, ob es nur an der mangelnden Objektivität liegt. Es hängt auch damit zusammen, dass in den Medien große Umwälzungen stattfinden und es immer weniger Experten, aber sehr viele Generalisten gibt. Daher werden derartige Begriffe viel öfter eingesetzt, weil die Dimension und die tatsächliche politikwissenschaftliche Bedeutung nicht jedem bewusst sind. Hier wird in eine allgemeine Rhetorik eingestimmt ohne die Thematik großartig zu reflektieren. Es gibt einen Diskurs, der sehr stark von Türkeibildern und einer ganz bestimmten Wahrnehmung des Landes geprägt ist. Das ist ein innerösterreichisches Problem, das mit dem politischen Diskurs in diesem Land zu tun hat.
Vermeintlich negative Entwicklungen, wie etwa, dass sich die Türkei unter Erdogan von einer liberalen Demokratie entfernt, treffen bei vielen auf ein Bild, das sie bereits in sich tragen. Auf der anderen Seite löst Erdogan durch sein politisches Handeln ganz bewusst bestimmte Reaktionen aus. Er braucht dieses Spiel „wir gegen den Westen und der Westen gegen uns“ und sieht sich zugleich gern als Fürsprecher einer imaginierten internationalen islamischen Community. Dafür ist dieser Gegenpart, der „Westen“, für seinen politischen Diskurs sehr wichtig.
Ist es überhaupt sinnvoll die Türkei mit einem stabilen Staat wie Österreich oder Frankreich zu vergleichen?
Entweder gibt es Demokratie, oder es gibt sie nicht. Wenn es um freie Meinungsäußerung, Respekt vor den Menschenrechten und die Einhaltung von demokratischen Grundwerten geht, dann sollte das System Demokratie universell verstanden werden. Da können keine Unterschiede gemacht werden. Aber wie das politische Spiel und das System ausgeprägt sind, das hat sich kulturell überall auf der Welt anders entwickelt. Die französische Demokratie etwa unterscheidet sich klar von der britischen, Großbritannien hat nicht einmal eine Verfassung. Das wäre in Österreich unvorstellbar. Hier gibt es jedoch das Konkordat mit dem Vatikan, das wiederum in Frankreich mit der laizistischen Vorstellung im Widerspruch steht. Es sind die Spielarten der Demokratie, die das politische System unterschiedlich gestalten. Es wäre unfair zu fordern, dass das österreichische System 1:1 in der Türkei umgesetzt werden soll. Das ist absurd. Und auch hierzulande gibt es Demokratiedefizite. Aber man kann kritisieren, wenn Grundwerte und Grundrechte wie Presse-und Versammlungsfreiheit eingeschränkt werden.
Warum gab es diese teils einseitige Türkei-Berichterstattung nicht auch schon vor 2002?
Die Türkei war davor eine Demokratie, die mit zahlreichen Einschränkungen funktioniert hat. Und leider ist sie es auch weiterhin. Das ist die Enttäuschung, die mitschwingt. Als die AKP-Regierung 2002 an die Macht kam, war es auch für viele Vertreter der Bildungseliten klar, dass es so nicht mehr weitergehen kann, sei es in Bezug auf die Kurdenfrage oder die Einschränkungen für Leute mit religiösen Lebensstilen. Das Verständnis, wie Moderne auszusehen hat, war ein sehr restriktives. Das passte nicht mehr zum Zeitgeist. Der Widerstand dagegen kam aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen. Die Reformen wurden dann bereits mit der Koalition vor 2002 eingeleitet und der Status eines EU-Beitrittskandidaten hat ebenfalls sehr viel Positives beigetragen. Die Alleinregierung der AKP wurde danach als große Erleichterung wahrgenommen, weil sie den Reformprozess enorm beschleunigt hat. Zudem kam die Zurückdrängung des Militärs, größere Medienfreiheit und der positive Umgang mit der kurdischen Sprache.
Aber all das hat nur in der ersten Legislaturperiode stattgefunden. Der türkische Staat ist weiterhin ein enorm zentralisierter, übermächtiger, bürokratischer Apparat. Um eine Demokratisierung weiter voranzutreiben, ist es notwendig, diese Bürokratie ein Stück weit abzubauen und demokratischer zu gestalten. Das könnte man mit Schritten, wie etwa, dass Provinzgouverneure gewählt werden und die Gemeinden mehr Entscheidungsfreiheiten erhalten, erreichen. Die AKP hatte zunehmend Angst gestürzt zu werden und das hat sich dann zu einer Paranoia entwickelt. Sie geht davon aus, dass ihr zahlreiche Personen in diesem Bürokratieapparat feindlich gesinnt sind. Auch wenn das zum Teil stimmt, wurde es ziemlich übertrieben. Anstatt einer Entflechtung kam es zu einer politischen Umfärbung der Beamten.
Trotzdem gewinnt die AKP seitdem jede Wahl und legte landesweit auf 49,8% zu. Was ist Ihre Prognose für die im Juni stattfindende Parlamentswahl?
Ich hüte mich vor Prognosen, weil hier sehr viele subjektive Wahrnehmungen einfließen und ich nicht die Möglichkeit habe, eigene Umfragen abzuhalten. Allerdings ist die AKP in den 13 Jahren deshalb so erfolgreich gewesen, weil die Wirtschaft gut gelaufen ist. Die Türkei hatte auch Glück, weil sie von der Krise in Europa und von der niedrigen Zinspolitik in Amerika profitierte. Dieser Aufschwung hat eben nicht nur mit den eigenen Fähigkeiten zu tun. Zudem machte der Bauboom den wirtschaftlichen Aufschwung stark sichtbar. Diese wirtschaftliche Entwicklung wird aber demnächst einbrechen und die AKP hat auch bereits den Zenit ihres Stimmenpotentials erreicht.
Das Land ist mittlerweile derart gespalten, dass es hier kaum mehr einen Spielraum für einen Zugewinn gibt. Entweder man ist für oder gegen die AKP, es gibt kaum mehr eine Grauzone. Und das ist kein gutes Zeichen für eine Demokratie. Nachdem der Reformprozess ins Stocken geriet, hat die AKP ihre Wählerschaft vor allem mit einer Freund-Feind-Rhetorik mobilisiert. Und die Opposition hat genau dasselbe getan. Die republikanische Volkspartei etwa wäre unter normalen Umständen niemals über 25% gekommen. Das läuft nun seit fast acht Jahren und hat einen tiefen Graben durch das Land gerissen, der nur sehr schwer überbrückbar ist. Es brodelt in der Bevölkerung.
Kommen wir zur Situation der Kurdinnen und Kurden im Lande. Wie bewerten Sie die aktuelle Situation?
Das türkische politische System hat lange Zeit verschiedene Gruppen ausgeschlossen. Darunter waren nicht nur religiöse Gruppen, sondern auch Kommunisten, Alewiten und Kurden. Die HDP (Anmerkung: Partei wird dem linken kurdischen Spektrum zugeordnet) betreibt eine Politik, die sehr auf Inklusion aus ist. Das ist nicht nur wichtig, um die notwendige 10%-Hürde bei den Wahlen zu schaffen, sondern auch, um sich als linke Alternative im Land zu positionieren und nicht nur als verlängerter Arm der PKK gesehen zu werden. Sie machen das sehr geschickt und sprechen viele Menschen an. Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs gibt es viele Missstände, wie etwa die Situation der Arbeiter, die bei diesen großen Bauprojekten oftmals nicht geschützt sind oder nur über Leihverträge angestellt sind.
Die HDP spricht genau diese Probleme an und nicht nur Thematiken, die die Kurden im Land betreffen. Somit rückt eine kurdische Partei in die Mitte des politischen Diskurses, die sich als Partei der Unterdrückten und Ausgegrenzten etabliert. So ist damals auch die AKP an die Macht gekommen. Der aktuelle Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und der PKK ist zudem eine echte Chance, um diesen langjährigen Konflikt endgültig zu beenden. Es hat sich sehr viel verbessert, aber es muss noch einiges geschehen. Muttersprachlicher Unterricht etwa ist für mich ein Menschenrecht und muss umgesetzt werden. Die AKP schwingt hier aber auch nationalistische Töne und daher bleibt abzuwarten, wie die Verhandlungen ausgehen.
Während Abdullah Öcalan versöhnliche Töne anschlägt, hat man das Gefühl, dass sich Teile der Bewegung immer mehr radikalisieren. Wie erklären Sie sich diesen Umstand?
Die PKK ist eine autoritäre Bewegung, die in sich nicht demokratisch ist und Abdullah Öcalan beansprucht die Führung uneingeschränkt für sich selbst. Jetzt sitzt er aber schon sehr lange im Gefängnis und ist somit zu einer Symbolfigur für die breiten Massen weit über die PKK hinaus geworden. Er ist ein Symbol für die kurdische Identität und den kurdischen Nationalismus. Wie stark seine Kontrolle über eine mittlerweile sehr breit aufgestellte Bewegung ist, ist schwierig einzuschätzen. Er ist in der Vergangenheit nicht gerade zimperlich mit den eigenen Leuten umgegangen, da gab es Exekutionen von Abtrünnigen. Zudem verselbstständigt sich die HDP immer mehr, nicht zuletzt durch die Popularität von Selahattin Demirtas. Derzeit hat Öcalan aber sicherlich noch die Fäden in der Hand und wenn er im Gefängnis ordentlich auf den Tisch haut, dann zählt es auch. Es bleibt aber fraglich, wie groß seine Rolle in Zukunft sein wird.
Ist der Konflikt zwischen der Gülen-Bewegung und der AKP gelaufen oder wird die Auseinandersetzung kurz vor der Wahl erneut eskalieren?
Erdogan tourt aktuell quer durch das Land, um für die AKP Wahlkampf zu betreiben, auch wenn er das als unabhängiger Staatspräsident eigentlich nicht tun dürfte. Bei diesen Veranstaltungen thematisiert er diesen Konflikt weiterhin sehr stark. Einerseits ist es Teil des politischen Diskurses geworden, die AKP braucht ein Feindbild, gegen das sie mobilisiert. Bei den letzten Wahlen war es ja bereits die Gülen-Bewegung. Auf der anderen Seite sind Erdogan selbst und die Partei mittlerweile sehr stark von dieser Paranoia geprägt, wer zu dieser Bewegung gehört und wer nicht. Das bietet Raum für Intrigen und Grabenkämpfe.
Es ist sehr einfach jemanden zu desavouieren, indem man ihm eine Unterstützung der Gülen-Bewegung vorwirft. Sehr viele Polizisten sind etwa in den Ruhestand geschickt oder zwangsversetzt worden, ohne dass wirklich bekannt wurde, was die genauen Gründe dafür waren. Hier können Parallelen gezogen werden zu der Zeit nach dem 28. Februar 1997, wo es zu einem postmodernen Putsch kam. Das Militär griff nicht direkt ein, zog aber die Fäden hinter den Kulissen. Danach kam es zu einer „Säuberung“ von islamistischen Elementen in Staat und Wirtschaft. Genau das Gleiche sehen wir jetzt, weil es zu einem Kampf innerhalb des Islamismus kommt. Die Gülen-Bewegung wird als Staat im Staat bezeichnet, zugleich muss man aber sagen, dass die AKP auch dank dieser Bewegung erst so groß wurde. Sinngemäß also: Die Geister die ich rief, werde ich nicht mehr los.
Kommen wir zur Außenpolitik des Landes. Warum ließ sich die Türkei in keinen Krieg mit dem sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) hineinziehen?
Das hat mehrere Gründe, die aus türkischer Perspektive durchaus verständlich sind. Die Türkei hat wahrscheinlich am meisten Kontakt mit dem „Islamischen Staat“, weil es ja direkt an der Frontlinie liegt. Zudem gibt es bestimmte Interessen in Syrien, die die AKP verfolgt. Aus Sicht der türkischen Regierung ist der IS das geringere Übel im Vergleich zum Assad-Regime sowie ein Produkt dieser Diktatur. Das stimmt zum Teil. Die Entscheidungen und Aussagen von Erdogan und der türkischen Regierung haben aber zu einer weiteren Entfremdung zwischen der Türkei und einigen westlichen Staaten geführt. Ich fand die Diskussionen in Österreich und anderen europäischen Staaten aber auch ein wenig unfair, warum die Türkei denn nichts tue. Naja, warum haben die anderen Länder nichts getan?
Etwa die zahlreichen ausländischen Kämpfer, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass der IS so mächtig wurde. Die kommen aus europäischen Staaten, da tragen einfach alle eine gewisse Mitschuld. Warum soll die Türkei alleine in den Krieg ziehen, das wäre ja sehr praktisch gewesen für alle anderen. Ich könnte genauso vorhalten, dass Österreich Anfang der 90er nicht am Balkan eingegriffen hat. Das ist nicht so einfach, wenn direkt vor der Haustür ein Konflikt tobt, weil man natürlich Angst hat, dass es einen Spill-over-Effekt auf das eigene Land haben könnte. Zudem ist die Stimmung in der türkischen Öffentlichkeit absolut gegen jegliche Involvierung in Syrien.
Präsident Erdogan hält weiter an seiner Unterstützung für den gestürzten ägyptischen Präsidenten Mursi fest. Was verspricht er sich davon?
Das ist ein Teil seiner politischen Rhetorik, die er auch in der Innenpolitik verwendet. Mursi passt in den innenpolitischen Diskurs: Der Islamist, der demokratisch gewählt wurde und vom Militär abgesetzt wurde. Das passt wunderbar mit der Rhetorik und Theorie zusammen, wonach es Umsturzpläne gegen die AKP gibt. Auf der anderen Seite sieht man aber, dass die Türkei immer mehr von dieser strikten Ablehnung des Militärputschs abgeht, weil die politische Realität eine andere ist. Die Türkei ist ziemlich alleine geblieben in ihrem Konflikt mit Sisi. Es gibt bereits erste Anzeichen der Annäherung, auch wenn in der Öffentlichkeit eine andere Taktik angewendet wird. Der türkischen Regierung ist eine Fehlkalkulation unterlaufen, weil sie dachte, dass sie der große demokratische Bruder für die islamistischen Bewegungen in der arabischen Welt sein kann und somit der Einfluss der Türkei ausgeweitet werden kann. Nur sind die anderen islamistischen Gruppen entweder gestürzt worden, oder haben, wie etwa die Ennahda in Tunesien, die Wahlen verloren.
Abschließend, beim wem würden Sie gerne einmal nachhaken?
Mich hätte die Generation von Thatcher und Kohl interessiert, weil sie damals in Europa sehr viel weitergebracht haben. Thatcher ist vielleicht ein schlechtes Beispiel für Europa (lacht), aber das war eine Zeit, wo Politiker noch relativ viel verändert haben. Das ist heute kaum mehr möglich. Retrospektiv würde ich gerne erfahren, ob sie mutiger waren oder einfach die Zeit eine andere war.
Vielen Dank für das Gespräch!