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Alexander Pollak: Europa will eigentlich keine Flüchtlinge aufnehmen (Bild: Christoph Hopf)

Alexander Pollak: Europa will eigentlich keine Flüchtlinge aufnehmen

Bereits mit 13 Jahren war der gebürtige Wiener auf den Straßen Österreichs, um für politische Ziele zu demonstrieren. Heute ist Alexander Pollak Sprecher der österreichischen Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch und meldet sich immer dann zu Wort, wenn es um die Ungerechtigkeit gegenüber Minderheiten und Schutzsuchenden geht. Im Interview spricht er über die fatale Flüchtlingspolitik Europas, den steigenden Hass gegenüber Musliminnen und Muslimen und darüber, was eine neuerliche FPÖ-Regierungsbeteiligung für Österreich bedeuten würde.

Wie gerecht ist die österreichische Gesellschaft?

Sie ist sicher nicht gerecht, aber natürlich ist die österreichische Gesellschaft weniger ungerecht als jene in vielen anderen Staaten dieser Welt. Es gibt hierzulande eine sehr große soziale Ungleichheit, Diskriminierungen aufgrund der Herkunft oder äußerer Merkmale sowie viele Hürden für Asylsuchende und ArbeitsmigrantInnen, die nach Österreich kommen. Von einer gerechten Gesellschaft sind wir noch weit entfernt.

Sehen Sie aktuell eher eine Veränderung zum Positiven oder zum Negativen?

In Bezug auf die soziale Ungleichheit deuten die statistischen Zahlen darauf hin, dass dieses Ungleichgewicht größer wird. Nach den starken Jahren des Wirtschaftswachstums und einer damit für viele Menschen verbundenen Mobilität nach oben, kam es in den vergangenen Jahren eher zu einer Stagnation sowie einer Entwicklung nach unten. Letzteres betrifft vor allem Menschen mit einem mittleren bis niedrigen Einkommen. Was das Zusammenleben betrifft, gibt es widersprüchliche Entwicklungen. Positiv sehe ich die neue Antidiskriminierungsgesetzgebung und eine gewisse Grundversorgung für Asylsuchende. Zugleich gibt es aber auch sehr viele Baustellen. Etwa der Asyl- und Flüchtlingsbereich, wo eine katastrophale Desintegrationsspolitik betrieben wird und der Integrationsminister die Augen vor der größten integrationspolitischen Herausforderung verschließt. Und es ist unsere Aufgabe hier weitere positive Entwicklungen voranzutreiben.

Wie schwierig ist so eine Aufgabe, wenn mediale Debatten zu diesen Thematiken oftmals sehr emotional geführt werden?

Ich denke, die gesamte Flüchtlingspolitik leidet darunter, dass so getan wird, als handle es sich nur um ein Randthema. Ein Randthema, das uns angeblich nicht so wirklich betrifft oder womit wir auch gar nichts zu tun haben. Das drückt sich in einer gewissen Abwehrpolitik aus, obwohl es in Europa eine solidarische Flüchtlingsaufnahmepolitik geben sollte. Wenn man von den einigen wenigen Resettlement-Programmen absieht, ist die Zielgröße für die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa quasi bei null. Es gibt daneben keine legalen Fluchtwege. Erst wenn die Menschen in Europa ankommen, beginnt man sich Gedanken zu machen, wie man mit ihnen umgeht. Diese von uns wegzuschieben führt dazu, dass Menschen auf so schreckliche Weisen ums Leben kommen.

Alexander Pollak: Europa will eigentlich keine Flüchtlinge aufnehmen (Bild: Christoph Hopf)

Gab es in Ihrem Leben einen besonderen Moment, wo Ihnen klar wurde, dass Sie Ihr Leben diesen Aufgaben widmen wollen?

Ich war eigentlich schon immer ein sehr politischer Mensch. Meine ersten Erinnerungen gehen zurück an den Bundespräsidentschaftswahlkampf von Kurt Waldheim – damals war ich zum ersten Mal demonstrieren. Ich begann mich intensiv mit der NS-Vergangenheit des Landes, dem Antisemitismus und der Medienlandschaft zu beschäftigen. Man könnte sagen, dass ich bereits mit 13 Jahren politisiert wurde.

Was hat sich seitdem in Bezug auf die Vergangenheitsaufarbeitung verändert?

Rund um Waldheim und danach gab es eine sehr intensive Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und der Beteiligung Österreichs. Natürlich gab es auch danach Verleugnungen. Was sicherlich heute nur noch schwer vorstellbar ist, war die damalige Verbreitung und Instrumentalisierung von antisemitischen Vorurteilen in den Massenmedien, um Pro-Waldheim und gegen jüdische Organisationen mobil zu machen. Heute gibt es einen sehr vorurteilsgeprägten Diskurs gegenüber Musliminnen und Muslimen und islamischen Strömungen. Demnach hat es hier sicher eine Verschiebung gegeben.

Wie bewerten Sie die viel zitierten Probleme mit ZuwanderInnen? Etwa im Gemeindebau oder in den Schulen?

Es ist eine Utopie zu glauben, dass das Zusammenleben in einer Gesellschaft perfekt und friktionsfrei sein kann. Wenn ich in einem Haus wohne, gibt es Menschen, die laut sind, eine Party feiern oder die Waschmaschine in der Nacht laufen lassen. Es gibt aber unterschiedliche Möglichkeiten damit umzugehen: Ich kann es kommunikativ mit den Nachbarn lösen oder den Konflikt ethnisieren und die Menschen aufgrund ihrer Herkunft bewerten. Derzeit befinden wir uns in einer Phase, wo aufgrund der medialen Berichterstattung und vor allem durch die Instrumentalisierung durch die FPÖ diese Alltagskonflikte als ethnische und religiöse Probleme wahrgenommen werden. Das halte ich für problematisch. Zugleich gibt es natürlich problematische religiöse und politische Strömungen, die nicht zu bagatellisieren sind. Deswegen sollten aber banale Alltagskonflikte nicht ethnisiert  werden. Menschen, die hier geboren sind oder auch schon einige Jahre hier leben, sollten nicht als Gäste, sondern als integraler Bestandteil dieser Gesellschaft gesehen werden.

Alexander Pollak: Europa will eigentlich keine Flüchtlinge aufnehmen (Bild: Christoph Hopf)
Bild: Christoph Hopf

Nehmen wir an, es gäbe in Europa keine Grenzen. Glauben Sie, dass die einzelnen Staaten einer uneingeschränkten Zuwanderung Stand halten könnten?

Am Ende des Tages sitzen wir alle in einem Boot und dieses Boot heißt Erde. Es gibt nur eine endliche Anzahl an Ressourcen, die wir uns teilen. Österreich lebt davon, dass es Rohstoffe, Waren und Lebensmittel importiert. Österreich ist kein autarkes Land, wir leben nicht auf einer Selbstversorgerinsel. Langfristig muss es möglich sein in einer Welt zu leben, die keine Grenzen hat. Natürlich ist ein solches Ziel kurzfristig nicht realisierbar. Man muss aber kleine Schritte in diese Richtung unternehmen, sodass wir auf diesem kleinen Planeten Erde zu einem nachhaltigen Lebensmodell kommen.

Welche Schritte wären das?

Man muss bei sich selbst beginnen. Solange es in Österreich religiöse oder ethnische Diskriminierung gibt, kommen wir nicht weiter. Es muss legale Fluchtwege nach Europa geben, eine europäische Einwanderungspolitik entstehen und Menschen ermöglicht werden, sich eine Arbeit zu suchen. Als ÖsterreicherIn hat man die sehr privilegierte Position ins EU-Ausland gehen zu können und somit so genannte WirtschaftsmigrantInnen zu werden. Und auch außerhalb Europas stehen uns sehr viele Möglichkeiten offen. Dieses soziale Ungleichgewicht muss man versuchen langsam aber stetig auszubalancieren.

2013 organisierten Sie die „Pass egal Wahl“. Gab es hier politische Konsequenzen?

Politisch hat sich nicht wirklich etwas weiterentwickelt. Es hat aber den teilnehmenden Menschen sehr viel bedeutet. Es waren Leute, die bislang noch nie in Österreich oder noch nie in ihrem Leben an einer Wahl teilgenommen haben. Da gab es einige sehr berührende Momente. Diese Menschen wollen an der Demokratie teilnehmen. Deshalb haben wir uns auch entschlossen, bei der kommenden Wien-Wahl eine Neuauflage der „Pass egal Wahl“ zu organisieren. Gerade in Wien ist mehr als ein Viertel der Wohnbevölkerung vom Recht den Gemeinderat zu wählen ausgeschlossen.

Alexander Pollak: Europa will eigentlich keine Flüchtlinge aufnehmen (Bild: Christoph Hopf)
Bild: Christoph Hopf

Warum tut sich Österreich hier so schwer?

Eine größere Wahlrechtsveränderung wäre nicht nur Bundessache, sondern müsste auch mit einer 2/3 Mehrheit im Parlament geschehen. Diese Mehrheit zu erlangen ist mit den derzeit vertretenen Parteien nur sehr schwer möglich, das ist uns auch bewusst. Zu viele setzen hier auf Polarisierung und darauf, dass sie Menschen gegeneinander ausspielen. Wir werden aber auch weiterhin Überzeugungsarbeit leisten.

Der 23. Jänner 1993 gilt sicher als Sternstunde ihrer Organisation. Wo sind die 300.000 Menschen des „Lichtermeer“ heute? Trauen sich Menschen heute weniger offen für etwas einzustehen?

Es ist nicht immer notwendig auf die Straße zu gehen. Gerade nach dem Lichtermeer hat sich sehr viel Positives in Bezug auf die österreichische Zivilgesellschaft getan. Wir haben heute eine wesentlich breitere und stärkere Zivilgesellschaft. In vielen Orten gibt es kleine Initiativen, die ehrenamtlich versuchen Flüchtlingen und Schutzsuchenden zu helfen. Viel an Engagement passiert heute nicht in Form von Demonstrationen, weil es einfach zahlreiche andere Möglichkeiten gibt, um sich zivilgesellschaftlich zu engagieren.

Übergriffe – verbal wie auch physisch – gegen MuslimInnen nehmen massiv zu. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Hier gibt es eine sehr negative Entwicklung, auch wir haben die vermehrten Angriffe im öffentlichen Raum, vor allem gegen Frauen mit einem Kopftuch, festgestellt. Wir sehen eine teilweise gehässige und undifferenzierte Medienberichterstattung, wo sehr gerne von „dem“ Islam gesprochen wird. Musliminnen und Muslime werden hier in einen Topf geworfen und politische Parteien treiben dieses Auseinanderdividieren zur Mehrheitsbevölkerung vehement voran. Dadurch entsteht eine sehr große Zerstörungskraft, die den sozialen Frieden bedroht. Und dagegen müssen wir unsere Stimme erheben. Wenn jemand Pöbeleien oder Übergriffe mitbekommt, dann soll er oder sie eingreifen oder die Polizei verständigen. Es muss klar sein, dass Hetze in Österreich keinen Platz haben darf.

Alexander Pollak: Europa will eigentlich keine Flüchtlinge aufnehmen (Bild: Christoph Hopf)
Bild: Christoph Hopf

In Deutschland brennen Moscheen und Asylheime. Entwickelt sich Europa ein wenig zurück in die frühen 90er Jahre?

Wir müssen uns mit der jetzigen Situation auseinandersetzen und die Probleme von heute lösen. Dort wo Asylunterkünfte sind oder errichtet werden, ist es sehr wichtig mit der dortigen Bevölkerung zu sprechen. An zahlreichen Orten in Österreich gab es Begegnungsveranstaltungen für neuankommende Asylsuchende und die ansässige Bevölkerung. Das waren sehr positive Veranstaltungen, wo viele Bedenken und Vorurteile ausgeräumt wurden. Beide Seiten konnten die Sorgen und Gedanken der anderen kennen und verstehen lernen. Die FPÖ hingegen versucht mit teils kriegerischen Begriffen wie „Invasoren“ Stimmung zu machen und das muss aufgebrochen werden. Dazu bedarf es Kommunikation und ja, hier wurden Fehler in der Politik gemacht. Wenn wie etwa in Tröglitz ein Asylheim in Brand gesteckt wird, darf man nicht zurückschreiten. Rechtsradikalen und Gewaltbereiten muss klar aufgezeigt werden, dass ihre Taten nicht dazu führen, dass weniger Menschen aufgenommen werden.

Die FPÖ wird bei den nächsten Nationalratswahlen ziemlich sicher auf eine Ebene mit SPÖ und ÖVP steigen. Was bedeutet eine mögliche blaue Regierungsbeteiligung für Österreich?

Es würde bedeuten, dass Menschen in Machtpositionen kommen, die ein rassistisches Weltbild vertreten. Diese Leute versuchen einen Keil zwischen die Menschen zu treiben und die Bürgerinnen und Bürger gegeneinander auszuspielen. Es würde auch bedeuten, dass Gelder für Integrations- und Flüchtlingsarbeit gekürzt und Menschenrechtsorganisationen nicht mehr gefördert werden. SOS Mitmensch ist diesbezüglich in einer guten Situation, wir sind unabhängig, aber für viele andere, die sehr wichtige Arbeit leisten, sind staatliche Förderungen überlebensnotwendig. Mit der FPÖ in der Regierung würde sich das Klima in Österreich insgesamt weiter verschärfen, gewaltbereite Menschen hätten das Gefühl, dass sie jetzt ihren Hass ausleben können. Es wäre mit Sicherheit eine sehr, sehr ungute Situation für das Zusammenleben in Österreich.

Wenn ich Ihnen eine Wunderlampe geben würde, was würden Sie sich für Österreich wünschen?

Puh, das ist eine gute Frage. Ich würde mir mehr Offenheit wünschen und dass Menschen erkennen, dass Vielfalt Normalität ist. Ein zweiter Wunsch wäre, dass es in Bezug auf die Flüchtlingspolitik keine halbherzige Politik mehr gibt. Menschen, die nach Österreich kommen, soll es vom ersten Tag an möglich sein Sprachkurse zu besuchen, sich weiterzubilden und nach kurzer Zeit Zugang zum Arbeitsmarkt zu erhalten. Mein dritter Wunsch wäre, dass es beim Thema soziale Gerechtigkeit zu keinem großen Auseinanderdriften kommt und dieser „Neiddiskurs“ gegen Menschen, die die Mindestsicherung beziehen und sehr wenig haben, aufhört. Im Gegenzug sollte bei denen, die viel haben, die Bereitschaft da sein, etwas davon abzugeben.

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Da gibt es immer wieder Politikerinnen und Politiker, bei denen ich gerne nachhaken würde. Und es gibt eine Reihe an interessanten Persönlichkeiten, mit denen ein Interview zu führen lohnenswert wäre. Wenn ich einen Vorschlag machen soll, dann nenne ich gerne die Frau Bock.

Vielen Dank für das Gespräch!

Nina Horaczek im Interview

Nina Horaczek: Rechts neben der FPÖ ist das Verbotsgesetz

Ihr gemeinsam mit Claudia Reiterer verfasstes Buch über Heinz-Christian Strache ist der wohl detaillierteste Einblick in die Welt des aktuell erfolgreichsten österreichischen Politikers des Dritten Lagers. Nina Horaczek ist Journalistin bei der Wiener Stadtzeitung „Falter“ und publiziert seit vielen Jahren zu den Themen Rechtsextremismus, Flüchtlingspolitik und Stereotypenforschung. Im Interview spricht sie über die in ihren Augen angestrebte Apartheidpolitik der FPÖ, den kometenhaften Aufstieg unter Strache und warum mit den Freiheitlichen kein Staat zu machen ist.

Wäre Österreich ohne die FPÖ im Parlament ein schönerer Ort?

(lacht) Wo wäre die FPÖ wohl, wenn sie nicht im Parlament wäre? Eine außerparlamentarische Opposition? Aber im Ernst, ich würde den Fokus nicht allein auf die FPÖ legen. Man kann nicht einfach sagen die Partei ist weg und Österreich ist perfekt. Die Frage ist eher, warum hat Österreich eine in meinen Augen rechtsextreme Partei, die ein Viertel der Stimmen bei Wahlen verbuchen kann. Ich glaube, Österreich wäre ein schönerer Ort, wenn es gelingen würde, dass die Menschen mehr Offenheit gegenüber Fremden und Anderen zeigen. Dieses Problem lässt sich aber nicht auf die FPÖ reduzieren.

„Ich habe nichts gegen Ausländer und Ausländerinnen, aber…“ – Kann diesem Sammelsurium an Vorurteilen mit Fakten gekontert werden?

Das erste Buch in diese Richtung, an dem ich mitgewirkt habe, hieß „Handbuch gegen Vorurteile“. Die Reaktionen waren sehr spannend. Viele meinten, dass sie die Hintergründe der unterschiedlichen Vorurteile nicht kannten. Da war es wieder: der Moslem oder der Ausländer, der seine Frau geprügelt hat. Mithilfe von diesem Buch verstanden aber sehr viele Menschen, wie mit derartigen Stereotypen umgegangen werden kann.  Einem Hardcore-Rassisten braucht man so ein Buch aber nicht hinlegen. Das neue Buch, das bald erscheint, ist für junge, weltoffene Leute und da glaub ich schon, dass ihnen objektive Fakten helfen, Vorurteilen zu begegnen. Als ich einmal einen Vortrag über die FPÖ hielt und im Publikum viele Berufsschüler saßen, kam einer nachher zu mir und bedankte sich, weil er sich so einsam fühlte als einziger Nicht-FPÖler in seiner Schule. Er meinte, dass ihm in Gesprächen oftmals die Argumente fehlen würden. Genau diese Leute brauchen eine Grundlage, mit der sie Diskussionen führen können. Das ist meine Hoffnung.

Zurück zur FPÖ: Warum bezeichnen Sie die Partei als rechtsextrem?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die FPÖ möchte den Sozialstaat reformieren, indem sie zwei Sozialversicherungen etabliert, eine für die Ausländer und eine für die Inländer. Hat der Inländer ein Hüftproblem, erhält er auf Kosten der Allgemeinheit ein künstliches Gelenk sowie die bestmögliche Therapie. Hat der Ausländer, der sein ganzes Leben hier gearbeitet hat, dasselbe Problem, bekommt er ein Aspirin und einen feuchten Händedruck. Das ist für mich eine klassische Apartheidpolitik, das ist Rassismus. Ein wesentlicher Punkt der FPÖ ist das regelmäßige Anstreifen am Nationalsozialismus. Auch wenn man sagen muss, dass bei einem Verstoß gegen das Verbotsgesetz mittlerweile der Parteiausschluss folgt. Aber es bleibt die einzige Partei Österreichs, der ein solcher Verstoß andauernd passiert. Und die FPÖ ist ganz klar islamfeindlich: Das fängt an bei den Mohammed-Beschimpfungen durch die Nationalratsabgeordnete Susanne Winter, über Daham statt Islam bis hin zu diesem Computerspiel bei den steirischen Landtagswahlen 2010. Das ist kein Populismus, das ist rechtsextrem. In Deutschland etwa werden solche Spiele von der NPD verbreitet und die ist ganz klar draußen aus der Politik.

Warum erhält die FPÖ trotz der Skandale und der blamablen Ausführung von Regierungsverantwortungen immer wieder einen großen Anteil der Wähler- und Wählerinnenstimmen?

Zum einen schafft es die FPÖ sich immer wieder als die „Anderen“ darzustellen. Sie sind gegen ihn, weil er für euch ist. Diesen Spruch von Jörg Haider benutzte später auch Strache. Die FPÖ stellt sich stets erfolgreich als Opfer dar. Den anderen Parteien hingegen gelingt es nicht, die Freiheitlichen zu entzaubern. Interessant ist, dass die FPÖ zudem Grenzen in der politischen Debatte verschiebt. Das 1993 initiierte Anti-Ausländer-Volksbegehren würde im Jahre 2015 wohl kaum hunderttausende Menschen auf die Straße bringen, weil solche Forderungen niemanden mehr schockieren. Heute gilt man nicht als Rassist, wenn man sagt, es sind zu viele Ausländerkinder in den Schulen. In den 90-er Jahren war so etwas undenkbar.

Nina Horaczek im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Rechte Rülpser sind heute aber auch von Rot, Schwarz und Grün zu hören. Sind diese Parteien gezwungen, die Früchte der FPÖ zu ernten?

Na ja, da nimmt man diese Parteien ziemlich aus der Pflicht. Das haben sie sich schon selbst zuzuschreiben. Es wäre naiv zu glauben, dass etwa das Islamgesetz dazu führt, dass ein Wähler von der FPÖ zur SPÖ oder zur ÖVP wechselt. Keine Ahnung, was die zwei Parteien da geritten hat. Ich habe mir vor kurzem angesehen, wie dieses Feindbild Islam bei der FPÖ entstanden ist. Sieht man sich etwa die Presseaussendungen rund um die Terroranschläge vom 11. September 2001 an, ist auffallend, dass es weder davor noch danach sehr viele FPÖ-Presseaussendungen zu Islam und Islamismus gab. Erst als 2005 die Partei von Strache übernommen wurde kam es zu einer massiven Thematisierung. Die anderen Parteien überließen der FPÖ das Feld und haben sich auch nicht dagegen gestellt.

Hängt das damit zusammen, dass Jörg Haider ein scheinbar sehr gutes Verhältnis zu arabischen Despoten hatte?

Wenn man es sehr provokant sagt, dann ist der Haider zu den arabischen Diktatoren wie Gaddafi und Hussein gefahren und Strache reist eben nach Israel, weil er das Land plötzlich als Bollwerk gegen die Islamisierung des Abendlandes entdeckt.

Hätte Jörg Haider das BZÖ ebenfalls auf einen islamfeindlichen Diskurs gelenkt?

Wenn es Stimmen bringt, sofort. In Kärnten etwa hatte er einen unbescholtenen muslimischen Imam als Hassprediger gebrandmarkt und ihm die Staatsbürgerschaft verwehrt.

Man hatte gegen Ende den Eindruck das Staatsmännische steht vor dem Populismus.

Gegen Ende von Jörg Haider hat man gar nicht mehr gewusst, was er wirklich will. Ich glaube, dass er selbst nicht mehr wirklich wusste, was er heute sagt und morgen tut.

Was bezweckt Stefan Petzner mit seinem neuen Haider-Buch?

Da geht es um ein paar Leute, die sich mithilfe von sozialen Medien wichtigmachen wollen. Natürlich verstehe ich die Familie, dass sie sich noch immer daran klammert und wissen möchte, was in Haiders Todesnacht genau passiert ist. Ich finde es aber grauslich, dass sich da bestimmte Medien daran beteiligen. Warum wird die Familie nicht einfach in Ruhe gelassen?

Hat der Tod von Jörg Haider das Ende vom BZÖ eingeläutet?

Ja, das war klar. Da waren nur noch die paar Glücksritter übrig, die sich die letzten Brotkrümel geholt haben. Ursula Haubner wollte sicherlich das Erbe ihres Bruders retten, aber die anderen haben ihre Periode im Nationalrat abgesessen und sich dann nach Alternativen umgesehen.

Nina Horaczek im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Gibt es heute neben der FPÖ noch Platz im Dritten Lager?

Ich wüsste nicht, wer Strache den Rang ablaufen könnte. Das hätte vielleicht noch ein Uwe Scheuch geschafft, aber der ist weg vom Fenster. Ich sehe da keinen Platz rechts neben der FPÖ, wobei rechts neben der FPÖ ist eh schon die Wand. Oder das Verbotsgesetz.

Und PEGIDA?

Deutschland hat PEGIDA, wir haben die FPÖ. Ich weiß auch nicht, was den Ewald Stadler reitet da mitzumachen. Stadler war sicherlich als Dobermann von Haider eine Kampfmaschine im Parlament. Aber dass er jetzt eine Volksbewegung aus dem Boden stampft, das glaube ich nicht. Vielleicht gehen ein paar sektoide mehr Christen auf die Straßen, aber eine derartige Strahlkraft traue ich ihm nicht zu. Aber wer weiß … (lacht).

In Ihrem Strache-Buch heißt ein Kapitel „Zuerst Bürgermeister, dann Kanzler“. Wird sich eines von beiden jemals ausgehen?

Bei den kommenden Wien-Wahlen sicher nicht. Vize-Kanzler hingegen wird schon möglich sein. Ich erinnere mich an das Jahr 2005, wo sowohl die Journalisten, als auch die Meinungsforscher dem Strache ein Potential von drei Prozent vorhersagten. Ich sehe ein wahnsinniges Vakuum der ehemaligen Großparteien und wenn Strache nichts entgegengesetzt wird, wird einiges möglich sein. Diesmal wird sich der Bürgermeistertitel in Wien aber nicht ausgehen, ich kenne auch seine Pläne für die Zeit nach der Wahl nicht. Dieser kometenhafte Aufstieg der FPÖ unter Strache war nur möglich, weil die Partei parterre war, als er sie übernommen hatte. Von drei Prozent hüpft es sich leichter hoch als von 27,5 Prozent. Was ich ganz klar sehe, ist, dass diese Isolierung der Partei für eine mögliche Koalition wie Windbäckerei dahinbröckelt. Und zwar nicht nur bei der ÖVP, sondern auch bei der SPÖ. Auf Gemeindeebene lassen sich die Sozialdemokraten ja bereits von jedem dahergelaufenen Blauen zum Bürgermeister wählen. Aber was im Burgendland und in der Steiermark anklingt…

… aber ist diese Isolation sinnvoll und spielt man damit der FPÖ nicht in die Hände?

Man muss auf die Inhalte eingehen und die Partei nicht einfach nur dämonisieren. Das wäre ein Fehler. Die FPÖ ist keine Partei wie alle anderen und das muss man auch betonen. Die Freiheitlichen haben es geschafft, den Hyposkandal so darzustellen, als ob dieser gar nichts mit der Partei zu tun hatte. Strache saß 2003 bereits im Bundesparteivorstand und die Partei baut auf Haider auf, der die Republik in diese ganze Scheiße gebracht hat. Und bis auf die Grünen haben die anderen Parteien ihn auch machen lassen. Das macht es für sie natürlich nicht leichter. Der FPÖ wird zu wenig auf sachlicher Ebene begegnet. Mit der FPÖ ist kein Staat zu machen und das kann man auch einfach belegen.

Nina Horaczek im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Gibt es aktuell regierungsfähige Minister und Ministerinnen der FPÖ?

Fairerweise sollte gesagt werden, dass es für jede Oppositionspartei sehr schwer ist, diesen Regierungsapparat, den man nicht gut genug kennt, zu übernehmen. Das gilt natürlich auch etwa für die Grünen. Was ich bei Strache sehr auffällig finde ist, dass er nach zehn Jahren Parteiführung keine wirkliche Breite in der FPÖ geschafft hat. Ich sehe aktuell kein ministrables Personal. Aber Kreiskys haben die anderen Parteien auch keinen, das aktuelle Niveau ist generell sehr tief. Es gibt auch in der FPÖ strategisch denkende Personen, die sicherlich nicht jeden Fehler von 2000 wiederholen werden. Aber es wird sicher brachial werden, wenn die FPÖ in die Regierung kommt. Dann ist natürlich noch abzuwarten, wie der Bundespräsident bei Kandidaten wie Gudenus reagieren würde. Aber das will ich mir ehrlich gesagt auch nicht vorstellen (lacht).

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Schwierig, die großen Politiker nicht, die reden nicht offen. Was mir wirklich Spaß machen würde, wäre ein Abend mit einem Ex-Politiker wie Schröder oder irgendwann später einmal Merkel oder Obama. Einfach off the record zu hören, wie es wirklich zugeht. Wie Sachen wirklich passieren. Das wäre sehr spannend.

Vielen Dank für das Gespräch!

Alexander van der Bellen (Bild: Christoph Hopf)

Van der Bellen: Die SPÖ betrachtet Wien als ihren Besitz

Alexander Van der Bellen lenkte elf Jahre lang die Geschicke der Grünen in Österreich. Er übernahm die Partei bei einem Stimmenanteil von fünf Prozent, den er innerhalb von neun Jahren verdoppeln konnte. Seine politische Leidenschaft gilt insbesondere der Energie- und Bildungspolitik. Im Interview spricht er über die Fehler der Grünen, seine Kritik am europäischen Umgang mit Russland und darüber, was er über die Debatte einer möglichen Kandidatur bei der Bundespräsidentschaftswahl 2016 denkt.

Sie treten bei der kommenden Wien-Wahl nicht mehr an. Haben Sie genug von der Politik?

Naja, genug von der Politik? Das klingt so negativ. Ich lernte die lokale Politik kennen, fand sie interessant und habe mein Bestes gegeben. Vor allem im Hinblick auf die Hochschulen in Wien.

Wie bewerten Sie rückblickend die erste rot-grüne Regierung in Wien?

Für mich ist die Mariahilferstraße das Vorzeigeprojekt schlechthin. Nicht nur weil ich dort unmittelbarer Anrainer bin, sondern generell. Ich finde das muss man schon erleben, wenn man die Einkaufsstraße entlang spaziert und dieses völlig neue Ambiente spürt. Es ist entspannter und man betrachtet in Ruhe die historischen Fassaden der Häuser. Obwohl ich bereits hundertmal vorbeigegangen bin, entdeckte ich erst kürzlich ein Gebäudeportal  der „Zentralsparkasse der Stadt Wien“. Eigentlich sollte dieses unter Denkmalschutz stehen, denn die Zentralsparkasse gibt es ja schon lange nicht mehr. Solche Kleinigkeiten gefallen mir.

Sind bei diesem Projekt Fehler passiert?

Na ja, letztlich ist die Befragung ja positiv ausgegangen. Diese sogenannte Abstimmung, die rein rechtlich gesehen eine Umfrage war, wurde de facto zu einer Abstimmung über die Stadtpolitik. Erst in letzter Sekunde konnte die Mehrheit der Bevölkerung von der Neugestaltung überzeugt werden. Und das vor allem dank der intensiven Hausbesuche. Selbst die, die davor noch dagegen waren, merkten, dass die Grünen mit Leidenschaft für das Projekt kämpften. Das spielte dann doch noch eine gewisse Rolle.

Fehlt diese Bürgernähe in der heutigen Politik?

Ich tue mir sehr schwer in der Beurteilung. In diesem konkreten Fall war es sehr wichtig und eventuell auch entscheidend. Ich bin diesbezüglich etwas zurückhaltend, weil Hausbesuche nicht meins sind (lacht). Dazu ist mir die Wahrung von Distanz zu wichtig.

Alexander Van der Bellen im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Wie schwer regiert man mit jemandem, der einen nicht mag? Die SPÖ wollte bestimmt keine Koalition…

Die SPÖ tut sich schwer damit, nach 100 Jahren absoluter Mehrheit endlich zu registrieren, dass diese Zeiten ein für alle Mal vorbei sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPÖ bei den kommenden Wahlen die Absolute zurückgewinnen wird. Wahlrecht hin, Wahlrecht her. Und das merkt man auf Schritt und Tritt. Die SPÖ betrachtet Wien als ihren Besitz und alles, was das irgendwie in Frage stellt, ist fast schon Blasphemie in den Augen der Sozialdemokraten.

Wie gehen die Grünen bei einer möglichen Neuauflage der Koalition mit der Wahlrechtsreform um?

Da spielen mehrere Dinge eine Rolle. Auf grüner Seite sind einige Fehler passiert. Erstens, man unterschreibt grundsätzlich keinen Notariatsakt, das habe ich in der Politik gelernt (lacht). Zweitens verhandelt man ein derart heikles Thema, wo ein Partner, in diesem Fall die SPÖ, etwas zu verlieren hat am Anfang der Legislaturperiode und nicht kurz vor dem Ende. Ich persönlich finde das Wahlrecht nicht so furchtbar. Was mich viel mehr irritiert, und das ist völlig außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung, ist, dass die SPÖ in allen Wiener Ausschüssen die absolute Mehrheit hat. Und das obwohl sie im Plenum des Gemeinderats bzw. des Landtags natürlich nicht die absolute Mehrheit hat. Ich komme aus dem Parlament und da wäre so etwas undenkbar. Dort werden immer die Verhältnisse des Plenums abgebildet. Nicht so in Wien. Als ich eines Tages noch ein wenig schläfrig im Europaausschuss saß, fiel mir auf, dass ich ganz alleine war. Die Grünen hatten genau einen Sitz gegenüber acht SPÖlern. Die Mehrheitsverhältnisse sind aber nicht 8:1. Und somit kann die SPÖ einen Beschluss des Plenums problemlos im Ausschuss blockieren. Im Nationalrat wäre das undenkbar.

Die Grünen sind in so vielen Landesregierungen wie nie zuvor. Linke Proteststimmen oder ist Österreich “grüner“ geworden?

Das Linksetikett im Zusammenhang mit den Grünen ist irreführend. Ein italienischer Philosoph bezeichnete die grüne Ideologie als transversal, also quer durch. Gesellschafts- und sicherheitspolitisch sicherlich links, aber der Kern, nämlich Ökologie und Umweltschutz, hat etwas konservatives. Es soll etwas bewahrt werden. Auf katholischer Seite heißt es Bewahrung der Schöpfung und wir nennen es trocken Umweltschutz. Da kommt man mit dem Links-Rechts-Schema nicht wirklich weiter. Auf Länderebene besteht zudem ein Unterschied zwischen den linkeren Grünen in Wien und denen in den Bundesländern. Im Übrigen haben sie einfach gut und professionell gearbeitet und wurden in den Wahlen und dann bei den Koalitionsverhandlungen dafür belohnt.

Was unterscheidet die Grünen von heute von denen vor 20 Jahren?

Vor 20 Jahren, das war im Jahre 1995. Ein Krisenjahr für die Grüne Bewegung, wir sind bei den Nationalratswahlen fast aus dem Parlament geflogen. Ich habe den Einzug gerade noch um ein paar Millimeter geschafft. Es gab damals noch Anfangsschwierigkeiten wie unklare Strukturen, heute sind die Grünen viel professioneller. Etwa in der Medienarbeit und in der Verwendung genauer Zielgruppenanalysen. Das alles ist auf den ersten Blick nicht entscheidend, aber das sind notwendige Bedingungen für das Überleben einer Partei.

Alexander Van der Bellen im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Warum lässt sich eine Partei wie die Grünen derart von der Integrationsdebatte vereinnahmen? Stichwort Efgani Dönmez.

Ich sehe das nicht so. Effi Dönmez provoziert gern, auch die eigenen Leute. Aber man sollte auch fragen, was er damit bezweckt. Oft geht es ihm um die Blauäugigkeit, die es auf grüner Seite gegeben hat. Ich kann mich noch erinnern, das war vor ungefähr 20 Jahren, als ein FPÖ-Politiker im Nationalrat erwähnte, dass es in Wien Pflichtschulen mit einem 60-70%igen Anteil nicht-deutschsprachiger Schülerinnen und Schülern gäbe. Bei uns, einem damals sehr kleinen Klub, war die Empörung groß. Aber ich wusste, weil meine Frau damals Volksschullehrerin in Ottakring war, dass dieser Anteil in ihrer Klasse bei über 90% lag. Und das ist nun mal eine Herausforderung für die Lehrerin, die Direktion und den Bezirksinspektor. Triviale Fragen tauchten schon damals auf: Was ist mit dem muslimischen Mädchen im Schwimmunterricht und ihren konservativen Eltern? Du musst mit den Leuten reden und ihnen vermitteln, dass alle Kinder gleichwertig sind und ihnen Chancen ermöglicht werden müssen. Die meisten verstehen das dann auch. Diese Sachen müssen wahrgenommen werden und können nicht einfach negiert werden.

Kommt man mit Beleidigungen wie “Kameltreiber“ weiter?

Nein, da haben Sie natürlich Recht. Das war ein Fehlgriff der Sonderklasse.

Stichwort Wr. Neustadt: Haben Sie die Hysterie um die Wahl des neuen Bürgermeisters nachvollziehen können?

Ich denke, dabei handelt es sich um eine sehr lokale Geschichte. Wr. Neustadt war über Jahrzehnte hinweg in roter Hand. Der neue ÖVP-Bürgermeister ist aber ein Intimus von Landeshauptmann Pröll und da muss man sich schon überlegen, ob man so jemanden unterstützt. Das ist kein schlichter Machtwechsel, sondern kann als Übergang von der feudalen SPÖ zur feudalen ÖVP interpretiert werden. Das einen das aufregt, jenseits der Diskussion rund um die FPÖ, ist verständlich. Ich weiß nicht, wie ich als Wr. Neustädter reagiert hätte. Als Außenstehender ist das schwer zu beurteilen. Ich kann schon verstehen, dass man einen Machtwechsel möchte, aber muss es genau ein solcher sein?

Von der Innenpolitik hinaus in die Welt: Sollte Österreich eine gewichtigere außenpolitische Rolle wie zu Zeiten von Bruno Kreisky übernehmen?

Ja, sollte es. Aber das ist offenbar seit mehr als 20 Jahren nicht das Ziel der österreichischen Politik. Das sieht man nicht zuletzt am immer kleiner werdenden Budget des Außenministeriums, besonders unter Minister Spindelegger. Wenn Botschaften und Konsulate geschlossen werden und das Personal im Ministerium gekürzt wird, dann wird es umso schwieriger, außenpolitischen Einfluss zu entfalten. Es war auch ein Fehler die UN-Soldaten des Bundesheers nach mehr als 35 Jahren praktisch über Nacht vom Golan abzuziehen.

Schiebt Österreich diese Agenden in Richtung Brüssel?

Österreich ist schon sehr viel provinzieller geworden was die Außenpolitik betrifft.

Bringt Außenminister Kurz eine Veränderung?

Er hat eine gute Presse und er hat auch alle überrascht. Jemand, der keine 30 ist, sich ohne große Fehler auf diesem so genannten Parkett bewegt, das ist schon eine sehr gute Leistung. Außenpolitik erfordert normalerweise jahrelanges Engagement. Peter Schieder von der SPÖ war hier ein Musterbeispiel. Von Anfang an hat er internationale Kontakte aufgebaut und gepflegt. Das geht leider zunehmend verloren in Österreich.

Alexander Van der Bellen im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Zuerst Georgien, dann Ukraine: Wie bewerten Sie den Umgang Europas mit Russland?

Ich glaube, wenn ich mich öffentlich dazu geäußert hätte, wäre ich als Putin-Versteher diffamiert worden. Ich finde es skandalös, wie nahezu die gesamte europäische Presse, Österreich ist da keine Ausnahme, nicht einmal versucht russische Positionen zu verstehen. Die Krim war nie ukrainisch, außer in den letzten 50 Jahren. Chruschtschow hat die Halbinsel aus unerfindlichen Gründen damals der Ukraine angegliedert. Wenn es eine indigene Bevölkerung dort gibt, dann sind das die Tataren, sicher nicht die Ukrainer. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die militärisch-strategische Position Russlands. Als 1989 der eiserne Vorhang fiel und die Wiedervereinigung Deutschlands bevorstand, ist Russland zugesichert worden, dass die NATO-Grenze nicht weiter nach Osten verschoben wird. Das geht aus US-Quellen hervor. Die Russen haben aber das Pech, dass das niemals schriftlich vereinbart wurde. Und was ist passiert? Die NATO-Ostgrenze verläuft heute direkt an den Grenzen zu Russland. Ich kann schon verstehen, dass das ein Stirnrunzeln in Russland hervorruft. Wenn Sie 200 Jahre zurückgehen, woher kamen alle Invasoren? Alle durch die Ukraine. Deswegen bin ich sehr erbost, wenn gesagt wird, dass von der Ukraine keine militärische Gefahr ausgeht. Ja natürlich, von der Ukraine selbst nicht, aber dass es sich um ein strategisches Vorfeld Russlands handelt, ist doch klar. Wie haben die USA in den letzten 100 Jahren reagiert, wenn vor ihrer Haustür eine potenzielle Gefahr entstand? Die haben sich auch nicht um das Völkerrecht gekümmert. Da wird mit zweierlei Maß gemessen. Ungeachtet all dieser Faktoren ist das Ukraineproblem lösbar. Aber es scheint auf beiden Seiten keinen guten Willen zu geben.

Gehen wir noch ein weniger südlicher auf der Landkarte. Hatten Sie jemals den Eindruck, dass der Arabische Frühling zu einer echten Demokratisierung im Nahen Osten führt?

Ich war nie euphorisch, muss ich gestehen. Und das aus einem einfachen Grund: Was sind wesentliche Elemente einer funktionierenden Demokratie? Es geht nicht darum, dass die Mehrheit entscheidet. Bevor man die Mehrheit entscheiden lässt, muss klar sein, worüber sie nicht entscheiden darf. Wenn ich in einem Land wie dem Irak plötzlich Wahlen ausschreibe und mir keine Gedanken über die unterschiedlichen Gruppierungen mache, dann wird Schlimmes passieren. Die Mehrheit wird die Minderheit unterdrücken. Man muss kein Prophet sein, um ein solches Szenario vorherzusagen. Wir hatten im Nationalratsklub lange vor dem Arabischen Frühling die Nahostexpertin Karin Kneissl zu Besuch. Sie sagte damals etwas sehr bemerkenswertes: Viel wichtiger als Demokratie, ist die Einführung von rechtsstaatlichen Mindeststandards. Das heißt etwa, dass nicht der Onkel verhaftet wird, wenn gegen den Neffen etwas vorliegt. Das ist ausschlaggebender als alles andere. Ich gebe aber zu, man steht oft vor beschissenen Entscheidungen. Ich war für die Intervention der NATO in Libyen, weil glaubhafte Belege vorlagen, dass Gaddafi die Stadt Bengasi mit tausenden Toten zerstört hätte. Aber das Bombardement hat hundert Jahre alte Stammeskulturen neu aufleben lassen. Wenn ich schon meine Fehler aufzähle: Ich war auch für die Waffenlieferungen an die afghanisch-indigene Bevölkerung nach der sowjetischen Invasion.

Das sehen Sie als Fehler?

Man hätte sich einige tausende Tote erspart. Hat sich irgendetwas verändert? Man ist die sowjetische Besatzung losgeworden und die Taliban sind an die Macht gekommen. Hmm, seufz.

Noch einmal zurück nach Österreich: Welche politische Schlagzeile wollen Sie im Superwahljahr 2018 lesen?

Es sollten ein paar Baustellen beseitigt sein. Von der Hypo-Alpe-Adria bis zur Durchsetzung von Energieeffizienz und erneuerbaren Energien. Dass Österreich den Klimawandel nicht ernst nimmt, das geht mir schwer auf die Nerven. Und dass das rot-schwarze Kartell endlich ein Ende hat, das war der einzige Punkt, bei dem ich mit Jörg Haider einer Meinung war. Es ist erstaunlich, wie langsam sich Österreich verändert.

Alexander Van der Bellen im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Nervt es Sie, wenn Sie ständig nach einer möglichen Präsidentschafts-Kandidatur gefragt werden?

Ja, schon. Ich habe dazu alles gesagt, was zu sagen ist. Die Wahlen finden erst in einem Jahr statt und die Kandidaten stellen sich üblicherweise zum Jahreswechsel vor. Warum soll man zu Amtszeiten von Heinz Fischer diese Debatte lostreten?

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Ich möchte gerne mit Ferdinand Lacina auf einen Kaffee gehen, um mir die Geschichte von Professor Borodajkewycz erzählen zu lassen. Nach 1945 saßen an den Universitäten viele politisch Neutrale, Stockkonservative, Reaktionäre und Altnazis. Aber keine Juden und praktisch keine Sozialdemokraten. Und dieser Borodajkewycz war ein Nazi und Antisemit, der an der Hochschule für Welthandel unterrichtete. Ferdinand Lacina studierte dort und stenographierte gemeinsam mit ein, zwei anderen bei den Vorlesungen. Das hat er dann publik gemacht. Daraufhin kam es zu Demonstrationen in Wien, bei denen ein Pensionist, der gegen Borodajkewycz demonstriert hat, zu Tode gekommen ist. Das war Ernst Kirchweger. Lacina als Augenzeugen dieser Geschichte würde ich sehr gerne zuhören.

Vielen Dank für das Gespräch!

Sonja Ablinger: Die SPÖ vergisst ihre frauenpolitische Pflicht (Bild: Ines Mahmoud)

Sonja Ablinger: Die SPÖ vergisst ihre frauenpolitische Pflicht

Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und kritisiert offen die Missstände der SPÖ: Sonja Ablinger saß acht Jahre lang im österreichischen Parlament und verschrieb sich bereits in ihrer frühen Jugend dem Kampf um Gleichstellung und Gleichberechtigung. Im Interview spricht sie über das vergessene Erbe von Johanna Dohnal, eine beunruhigende SPÖ-Frauenpolitik, Frauenhass in der Gesellschaft und das leidige Kopftuch.

In einem Interview mit dem Onlineportal „turi2“ fragte ein Journalist die neue Gala-Chefredakteurin, ob sie sich hochgeschlafen hätte. Warum können solche Fragen im Jahre 2015 gestellt werden?

Ich glaube, dass das zum Teil schlimmer wird. Wir merken seit geraumer Zeit, dass es einen wachsenden Antifeminismus gibt. Das ist in Zeiten von Verteilungskämpfen nicht überraschend. Mittlerweile finden sich dieser Frauenhass und diese Platzzuweisungen an Frauen auch in den Mainstream-Medien. Bei den mehrheitlich männlich besetzten Chefredaktionen findet vermutlich selten ein feministischer Diskurs statt. Wenn wir uns etwa das jüngste Cover des „profil“ mit der Überschrift „Brauchen Frauen eine strenge Hand?“ ansehen. Das wird dann mit der Freiheit der Provokation gerechtfertigt. Ich glaube nicht, dass man „Brauchen Juden Diskriminierung?“ titeln würde.

Kurz zuvor gab es ein ähnliches Cover mit dem Titel „Was den Islam gefährlich macht“…

Genau, mit den Muslimen war es ähnlich. Dieses Treten nach unten möchte ich fast sagen. Ich beobachte  seit Jahren eine zunehmende negative Haltung à la „was wollen die Frauen noch“. Was völlig absurd ist, weil die Ungleichheiten wieder stärker gewachsen sind. Die Lohnunterschiede gleichen sich nicht aus, die Beschäftigungsformen der Frauen werden nicht besser und auch bei der Aufteilung von privatem und beruflichem Leben hat sich kaum etwas geändert. Gleichzeitig beginnt eine Diskussion, die den Frauen und Feministinnen die Legitimation entziehen will. Zudem entsteht eine gewisse Brutalität, die etwa in den Onlineforen und in den sozialen Medien zu spüren ist. Bei frauenpolitisch relevanten Themen liest man Kommentare, die voller Hass sind und damit viele Frauen aus den Foren vertreiben, die sich des Themas annehmen.

Ein weiteres Beispiel ist die Anti-Sexismus-Kampagne #aufschrei, die sich mit einer stern-Autorin solidarisierte, weil sie sich gegen das sexistische Verhalten eines Politikers öffentlich äußerte. Für ihre Offenheit wurde sie massiv angefeindet. Die Hashtag-Kampagne brachte viele Frauen dazu, über ihre Begegnungen mit Alltagssexismus von Erniedrigungen bis hin zu sexuellen Belästigungen zu berichten. Zugleich gab es eine Diskussion, was denn dieser Aufschrei soll, weil das ja alles nur ein Spaß und eine Form des Flirtens sei. Da wird spürbar, wie sehr die grundsätzliche Gleichheit von Frauen und Männern keine Selbstverständlichkeit ist.

Bild: Ines Mahmoud
Bild: Ines Mahmoud

Wo liegen die Gründe dafür?

Ich denke, es hat auch mit dem neoliberalen Strukturumbau in Richtung Wettbewerbsgesellschaft zu tun. Das sollte nicht unterschätzt werden. Wenn der Wohlfahrtsstaat zurückgebaut wird, ist es für viele schwieriger ihr Leben zu sichern. Parallel dazu tritt die Frauenbewegung immer mehr ins Hintertreffen. Ich selbst bin politisch in den 80-er Jahren aufgewachsen, also eine klassische Johanna Dohnal Feministin. Damals gab es viele öffentliche Debatten, wie etwa über das Gewaltschutzgesetz, die die Meinungen über Frauenrechte beeinflusst haben. Wenn so etwas nicht mehr stattfindet, dann erhalten die Stimmen eine größere Bühne, die Frauenrechte nicht wirklich für relevant halten.

Das ist eine sehr pessimistische Situationsanalyse. Sehen Sie in Europa ein Licht am Ende des Tunnels?

Wie so oft sehe ich das in den skandinavischen Ländern. Dort gibt es eine egalitärere Frauenpolitik, da es seit jeher eine Selbstverständlichkeit ist, dass Frauen am Arbeitsleben teilnehmen. Das bedeutet, dass der Staat die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung stellt. Die Frage von Beruf und Familie ist für Frauen und Männer gleichermaßen relevant. Diese Länder sind uns gut 30 Jahre voraus, weil sie sich viel früher um Rechtsansprüche bemüht haben. Frauen haben viel mehr Möglichkeiten, um ökonomisch unabhängig zu leben. Das ist hierzulande nicht der Fall. Es muss gewährleistet sein, dass Frauen ein Recht auf eine eigenständige Existenzsicherung haben. In Österreich können sie von ihrem Einkommen kaum unabhängig leben.

Erinnern Sie sich an einen Schlüsselmoment, der für ihre feministische Lebenseinstellung maßgeblich war?

Meine Einstellung hat sich dadurch entwickelt, dass ich relativ früh in die sozialdemokratische Schülerorganisation kam, wo ich mich mit Feminismus und Frauenpolitik auseinandersetzte. Tatsächlich gab es aber auch den einen Moment: Als ich mit 14 Jahren auf meine erste große Friedensdemonstration ging, lauschte ich einer Rede von Johanna Dohnal. Sie konnte mir so eindringlich erklären, dass die Ängste, die ich damals hatte – vor allem die eines Nuklearkriegs – nicht naiv sind, sondern politisch bekämpft werden können. Das hat mich damals sehr berührt. Johanna Dohnal konnte so gut erklären, warum so viele Probleme mit den gegebenen Strukturen zu tun haben. Wie etwa die Behandlung von Mädchen in der Schule, die Anmache auf der Straße oder das dominante Auftreten von Männern in der Partei. Das war alles sehr prägend für mich.

Wird die heutige SPÖ dem Erbe von Johanna Dohnal gerecht?

Nein. Ein jüngstes Beispiel war sicherlich die Debatte um die Quotenregelung. Die Quote ist mehr als eine Prozentrechnung. Der Umgang der Partei damit ist ein Zeichen dafür, dass das wofür Johanna kämpfte an Bedeutung verloren hat. Ich habe generell das Gefühl, dass das Interesse an Gleichstellungspolitik in der SPÖ schwindet. Es war ein großer Fehler das einst eigenständige Frauenministerium in das Bildungsministerium einzugliedern. Damit geht es verloren und das sieht man auch, weil man immer weniger vom Frauenministerium hört.

Bild: Ines Mahmoud
Bild: Ines Mahmoud

Hat das mit dem neoliberalen Wandel zu tun, der auch die Sozialdemokratie beeinflusst?

Das Einschlagen dieses so genannten dritten Weges, also das nur leichte Abfedern des Sozialabbaus, hat viele Grundpfeiler der Sozialdemokratie gelockert. Und darunter fällt auch die Frauenpolitik. Eva Kreisky sagte einst, dass der Wohlfahrtsstaat immer denjenigen zur Seite steht, die wenige Chancen haben. Dadurch, dass dieser immer mehr unter Druck kam, ist die Eigenständigkeit von Frauen schwieriger geworden. Ein Beispiel aus den 80-er Jahren: Ein wesentlicher Punkt war, dass alleinerziehende Frauen über staatliche Unterstützungen eigenständig leben konnten. Da gab es neben dem Karenzgeld auch weitere Zuschüsse. Diese Sozialleistungen sind Schritt für Schritt gekürzt worden. Da hat die Sozialdemokratie mit  der Begründung „wir müssen effektiver und moderner sein“ am Sozialstaat rück- und abgebaut. Nicht zu unterschätzen ist auch die schwarz-blaue Regierung, die Frauenpolitik durch Familienpolitik ersetzte und als höchstes Symbol einen Mann als Frauenminister einsetzte. Zudem wurden Frauenpensionen massiv gekürzt. Nach dieser politischen Wende  hat die SPÖ nur sehr wenig politisch aufgearbeitet.

Ist es dann nicht umso unverständlicher, dass sich immer mehr Sozialdemokraten für Gespräche mit der FPÖ öffnen?

Ich bin mir da nicht sicher, dass das so viele sind. Für mich ist das einfach undenkbar. Eine Sozialdemokratie, die von sich behauptet offen für eine Koalition mit der FPÖ zu sein, kann den Laden schließen. Die alleinige Behauptung, nicht mit den Hetzern zu koalieren, ist aber zu wenig. Sehen wir uns das Frauenbild der Freiheitlichen Partei oder deren Vorstellungen einer Justiz oder Kulturpolitik an. Es gibt so viele Felder, wo sie ein nationalistisches, rechtskonservatives, anti-europäisches und autoritäres Staatsverständnis hat. Und das ist keinesfalls mit sozialdemokratischen Ideen kompatibel.

Gehen wir ein Stück raus aus Österreich. Die internationale Musikindustrie strotzt vor weiblicher Freizügigkeit. Glauben Sie, dass diese Künstlerinnen frauenpolitische Ziele verfolgen?

(lacht) Das müssen Sie sie schon selber fragen. Als Feministin und Frauenpolitikerin finde ich etwas anderes viel wesentlicher. Diese Industrie ist extrem männlich dominiert, Frauen haben hier grundsätzlich viel weniger Chancen, um auf die Bühne zu kommen. Natürlich ist das ein sehr harter Verdrängungskampf, der für Frauen sehr schwer zu führen ist. Sehen Sie sich die Festivals an, da werden kaum Frauen eingeladen. Da ist übrigens im Theater nicht viel anders. Als ich im Parlament Kultursprecherin war, habe ich mir alle Regisseurinnen in den großen deutschsprachigen Theatern angesehen. Raten Sie einmal, wie viel es da gab?

Ich muss sagen, ich habe bislang nur sehr wenige Frauenstimmen aus diesem Sektor gehört. 15-20%?

Would be nice. Es sind fünf Prozent. Auch wenn das heute etwa mit einer Frau an der Spitze des Wiener Burgtheaters besser wird, wurden  viele Spielsaisonen mehrmals hintereinander keine Regisseurin oder Autorin eingeladen.

Bleiben wir in der Musikindustrie. Große Teile des modernen Hip-Hops degradieren die Frau zu einem Sexobjekt. Sehen Sie hier einen Ausweg?

Solche Dinge widerspiegeln reale Verhältnisse. Das hat einiges mit dieser bereits zuvor erwähnten Platzzuweisung der Frau zu tun. Einen Ausweg kann es nur über eine direkte Unterstützung der Frauen geben. Nur sie selbst können ihren Platz einfordern.

Stichwort Konsumpolitik: Rosa Shampoos für die Mädchen, blaue für die Jungs. Ist es nicht langsam Zeit für einen wirtschaftsorientierten Feminismus?

Es gab immer wieder Kampagnen und heftige Gegenreaktionen. Mein Mann war bis vor kurzem Vorsitzender der Kinderfreunde Oberösterreich, die einst die Themen Schultasche und Faschingskostüme thematisierten. Da gab es eine große Erregung und, Debatte zugleich. So etwas gibt es immer wieder. Aber Sie haben sicherlich Recht, dieses ökonomische Denken wird stärker. Als ich vor kurzem am ehemaligen Kindergarten meines Sohnes vorbeiging, waren fast alle Mädchen in Rosa gekleidet. Daraufhin meinte die Pädagogin, dass die Situation manchmal furchtbar ist, weil diese Mädchenmode eben auch eine Zementierung von Rollenklischees und Rollenbildern sei.

Bild: Ines Mahmoud
Bild: Ines Mahmoud

Themenwechsel: Wie bewerten Sie den innerfeministischen Diskurs zum Thema muslimische Frau bzw. Kopftuch?

Spannender ist doch, was eine Frau im Kopf hat und nicht auf dem Kopf. Diese Konzentration auf einen Quadratmeter Stoff verstehe ich nicht. Wie müssen sich Frauen fühlen, wenn ständig darüber gesprochen wird, was sie auf dem Kopf tragen. Es wird viel zu viel über Musliminnen geredet statt mit ihnen. Ich habe vor einigen Jahren, als ich politisch noch aktiv war, einige Runde Tische zu dem Thema veranstaltet. Dieses sich austauschen führt dazu, dass wir auch miteinander klüger werden und uns auf Augenhöhe begegnen. Es gibt ja auch Musliminnen, die finden, dass das Kopftuchtragen falsch ist. Ja, aber diese Debatte ist so unnötig.

Der Großteil der muslimischen Frauen, die bei uns leben, hat sich ganz anderen Herausforderungen zu stellen. Sie sind in extrem schlechten Arbeitsverhältnissen, erhalten ein Einkommen, das zum Weinen ist und werden arbeitsrechtlich hintergangen. Ganz zu schweigen von der Diskriminierung und Entwürdigung auf Ämtern. Da spielt diese Kopftuchdebatte eine Rolle, weil man Frauen damit einen Stempel aufdrückt. Wenn das Wort Muslimin in der Zeitung vorkommt, sehen Sie immer eine Frau mit Kopftuch von hinten. Das führt zu einer unglaublichen Abwertung dieser Frauen.

Wann wird es in Österreich die erste Bundeskanzlerin oder Bundespräsidentin geben?

(lacht) Zurzeit sieht es nicht so aus, dass die Parteien darauf setzen, dass es Frauen und Männer gleichermaßen in dieser Welt gibt. Das sieht man am Rückgang des Frauenanteils im Parlament. Die Gleichstellung in einer Gesellschaft hat aber nichts mit einer Bundeskanzlerin oder einer Bundespräsidentin zu tun. Das sieht man ja an einer Angela Merkel oder Margaret Thatcher.

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Wir hatten mit den SPÖ-Frauen noch vor einiger Zeit das Projekt „Unerhört“ organisiert, wo wir mit vielen Frauen in prekären Lebenssituationen sprachen. Da ging es vor allem um Frauen mit Migrationshintergrund, die in Putzfirmen angestellt sind oder die eine Mindestpension beziehen. Was die erleben ist unerhört und es ist unerhört, dass sie das erleben müssen. Wenn sich etwa eine muslimische Frau überlegen muss, ob sie ihr Kleinkind alleine in die Volksschule schickt oder ihren Job verliert, weil der Chef keine Rücksicht nimmt, dass sie nicht um sechs Uhr früh in der Arbeit sein kann. Bei diesen Frauen, die keine Lobby haben und ausgepowert sind, da würde ich sehr gerne nachhaken. Denn da kann man noch sehr viel für die eigene Frauenpolitik lernen.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Matti Bunzl: Ich überlasse Wien nicht den Rechtspopulisten (Bild: Christoph Hopf)

Matti Bunzl: Ich überlasse Wien nicht den Rechtspopulisten

Der Kulturanthropologe Matti Bunzl kehrt nach 24 Jahren in den USA nach Wien zurück, um das Zepter des Wiener Stadtmuseums in die Hand zu nehmen. Im Interview spricht er über die soziokulturellen Unterschiede zwischen Österreich und den Vereinigten Staaten, mögliche Wege aus der Integrationsdebatte und darüber, wie er nach dem Rekordjahr 2014 noch mehr Besucher und Besucherinnen in das „Wien Museum“ bringen will.

Wann haben Sie gemerkt, dass Geschichte Ihre Berufung ist?
Das hat eigentlich direkt mit diesem Haus zu tun. Ich bin in Wien geboren und aufgewachsen. Als ich sieben, acht oder neun Jahre alt war, begeisterten mich die ausgestellten Stadtmodelle im Wien Museum. Damals erkannte ich, dass Geschichte erfahrbar und analytisch nachvollziehbar ist. Das Modell mit den alten Stadtmauern von Wien und daneben die moderne Stadt mit den Prachtbauten an der Ringstraße zu erblicken war sicherlich ein sehr prägender Moment für meine Identitätsfindung. Viele Jahre später, genauer gesagt im Jahre 1985, beeindruckte mich die Ausstellung „Traum und Wirklichkeit“, die das Wien zur Jahrhundertwende beleuchtete. Nach meiner Matura ging ich in die USA, um zu studieren. Dort faszinierte mich die Kulturanthropologie, die versucht, die gesamte Menschheit analytisch zu erfassen. Ich sehe mich in erster Linie als Wissenschaftler und bin erst viele Jahre später ins Kulturmanagement gewechselt. Vor fünf Jahren übernahm ich die Intendanz des Chicago Humanities Festival, das größte geisteswissenschaftliche Festival in den USA. Daneben widmete ich mich aber immer der Forschung rund um die Stadt Wien und somit repräsentiert das Wien Museum genau das, was ich immer schon gemacht habe.

Nach 24 Jahren USA kehren Sie in ihre Heimat Österreich zurück. Wo sehen Sie die größten gesellschaftspolitischen Unterschiede?
Die mit Abstand wichtigste Unterscheidung, auch wenn es sicherlich ein Klischee ist, ist das tiefe Selbstverständnis der USA, ein Einwanderungsland zu sein. Ohne die rosarote Brille aufzusetzen und die unfassbare Ungleichheit in den Vereinigten Staaten zu ignorieren, muss angemerkt werden, dass Einwanderung dort als ein absolutes Plus verstanden wird. Die Bevölkerung geht davon aus, dass die USA deswegen ein so starkes Land ist, weil Menschen aus der ganzen Welt einwanderten, um den American Dream zu leben. In Österreich finden wir ein solches konstitutives Grundverständnis nicht.

Bild: Christoph Hopf
Bild: Christoph Hopf

 

Wie stark veränderten die Terroranschläge vom 11. September 2001 diese offene Haltung der Gesellschaft?
Es gibt in den USA eine Islamophobie, ja die gibt es. Aber sie ist kleiner und strukturell anders bedingt als in Europa. Ein wichtiges Gründungsmotiv der Vereinigten Staaten war neben der liberalen Einwanderungspolitik  die religiöse Freiheit. Dieser religiöse Pluralismus, der für alle Bekenntnisgemeinschaften einen Platz in der Gesellschaft vorsah, muss in einem christlichen Kontext gesehen werden. Da ging es etwa um protestantische Sekten, die in Europa verfolgt wurden. In den USA genossen sie jedoch eine unbeschreibliche Freiheit. Später förderte dies das Zusammenleben mit jüdischen und muslimischen Gläubigen.

Der Islam genießt unzählige Freiheiten. Etwa ist das Kopftuch an keiner Universität ein brisantes Thema, eine derartige Diskussion wie jene in Frankreich wäre in den USA unvorstellbar. Die Bevölkerung verstand den Angriff vom 11. September unmittelbar als einen terroristischen Angriff. George W. Bush, dessen Freund ich niemals war, zog umgehend eine Trennlinie zwischen dem Islam und den Angreifern. Er besuchte die Moschee von Washington, um dort aktiv seine Solidarität zu zeigen. In Österreich fällt es den Politikern noch immer schwer, den Islam als Teil dieses Landes zu sehen. In Amerika wäre das eine Selbstverständlichkeit.

Kann das Wien Museum zu einem besseren Miteinander beitragen?
Wir werden mit Sicherheit dieses Thema aufgreifen. Ich bin ein Realist und ein Pragmatiker zugleich. Wird das Wien Museum ein Haus werden, wo Katholiken, Juden und Muslime gemeinsam zum gleichen Lied schunkeln? Unwahrscheinlich. Wo das Wien Museum aber eine Führungsrolle übernimmt, ist in der Darstellung der Wiener und der österreichischen Realität als eine inhärent multikulturelle. Wien ist und war eine Weltstadt und das meine ich ernst. Das heißt aber, dass wir diese Stadt niemals als eine rein monokulturelle, germanisch-deutsche Stadt sehen dürfen. Das war sie nicht und das wird sie in absehbarer Zeit nicht werden. Mir geht es nicht darum, Leute für irgendeine Schunkelstimmung zusammenzubringen. Ich möchte einen Ort schaffen, wo die kulturelle Vielfalt der Stadt als eine Selbstverständlichkeit gezeigt wird.

Bild: Christoph Hopf
Bild: Christoph Hopf

Was muss in Österreich passieren, dass das Thema des Miteinanders nicht mehr derart polarisiert?
Eine solche Frage ist sehr philosophisch und wichtig zugleich. Ich bin gekommen, um Teil dieses Kampfes zu sein. Mir sind Wien und Österreich einfach viel zu wichtig, als dass ich dieses Terrain den  Rechtespopulisten überlassen kann. Das lasse ich nicht zu. Gleichzeitig glaube ich, dass effektive Antworten eine gewisse Qualität haben müssen. Ich befürchte, dass tiefemotionell sitzende Gefühle nicht leicht mit rationalen Argumenten zu beseitigen sind. Ein Beispiel: Wien und Österreich wären ohne die Einwanderung völlig überaltert, die früher oder später aufgrund fehlender Pensionsfinanzierung Pleite gehen würden. Das ist ein Faktum, wir wären so aufgeschmissen ohne Einwanderung. Das Problem ist, dass ein solches Argument nur sehr wenige Leute überzeugt. Die Rolle des Wien Museum ist, diese Ängste vor der Migration zu verstehen und die Multikulturalität in einer nicht belehrenden Art darzustellen. Da habe ich einige Ideen, die aber noch nicht spruchreif sind.

Sie übernehmen mit 1. Oktober 2015 offiziell die Führung des Wien Museum. Was sind die größten Herausforderungen?
Die große Herausforderung ist der Um- und Ausbau des Hauses. Für mich ist das unheimlich spannend und die Finanzierung spielt dabei eine große Rolle. Aber alles Geld dieser Welt kann dir kein gutes Museum zusammenbasteln. Es geht darum, eine für die Stadt relevante, spannende Plattform zu sein. Das beginnt bei Ausstellungen bis hin zum Schaffen von Orten, wo Gespräche stattfinden. Ich spreche gerne vom Labor der Zivilgesellschaft. Ich verfolge hier sicherlich eine sehr amerikanische Interpretation von Museen.

2014 war ein Rekordjahr für Ihr neues Haus. Wer ist der typische Wien Museum Besucher?
Wir haben ziemlich gute Demographien und wir sehen, dass uns die Wiener und Wienerinnen sehr lieben. Ich denke, die Menschen sehen uns als das Museum ihrer Stadt. Die klassischen Besucherinnen und Besucher möchten bewusst mehr über Wien erfahren, über seine Kultur und seine Geschichte. Das ist fantastisch und großartig. Was ich aber noch zusätzlich gern hätte, wären Besucherinnen und Besucher aus dem Ausland oder Menschen, die nur temporär in Wien sind. Gerade bei Touristen sind wir nicht so sehr am Radar, wie ich es gern hätte.

Bild: Christoph Hopf
Bild: Christoph Hopf

Scheitert das an der fehlenden Werbung im Ausland?
Da spielen natürlich unterschiedliche Faktoren mit. Wir sind ein Stadtmuseum und kuratieren Ausstellungen über die Wiener Geschichte. Derartiges zu vermarkten ist nicht leicht. Gäste aus dem Ausland orientieren sich an den vorhandenen Reise-Guides, in denen das Wien Museum nicht wirklich als eine Attraktion vorkommt. Somit müssen wir überlegen, wie wir hier auffallen und unser Angebot für diese Gruppe so spannend wie möglich gestalten können.

Sie sind ein großer Opernfan und umgeben von hochwertigen kulturellen Einrichtungen. Welche Rolle spielt Innovation in Ihrer Planung?
Eine sehr große! Ich trete an, um diesen Betrieb weiterzuführen und neue Ideen einzubringen. Es wird extrem interessante Formate und spannende Kooperationen geben. Ich treffe mich sukzessiv mit allen Kulturinstitutionen in der Stadt und jedes Gespräch ist die Basis für ein potentielles oder bereits zu planendes Projekt.

Instagram, YouTube, Snapchat. Wie sprechen Sie die Generation Y mit Ihren Projekten an?
Meine Arbeit in den USA war stark durch Social Media geprägt. Beim Kuratieren von Ausstellungen und Projekten geht es immer darum, mit welchen Marketingmethoden ich mein jeweiliges Publikum erreiche. Nur weil die Substanz existiert, heißt das noch lange nicht, dass auch jemand kommt. Gerade in einer Stadt, in der es so viele Angebote gibt. Ich muss verstehen, was junge bildungsinteressierte Menschen denken und was sie wollen. Und als Ethnologe ist das meine Aufgabe.

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?
Eines meiner großen Idole ist Franz Boas, der Begründer der amerikanischen Anthropologie. Er war in allen Belangen eine gigantische Figur. Ihn hätte ich sehr gerne kennengelernt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Interview mit Robert Misik (Bild: Wolfgang H. Wögerer)

Misik: Die fehlende Glaubwürdigkeit der Linken

Robert Misik ist mehr als nur ein Intellektueller innerhalb des linken politischen Spektrums. Mit seinen wortwitzigen und pointierten Videoblogs auf derStandard.at unterhält er wöchentlich ein breites Publikum. Im Interview spricht er über das Fehlen einer linken Wirtschaftsalternative, übertriebener Hysterie beim Thema TTIP und einem linkspolitischen Lichtblick in der österreichischen Regionalpolitik.

Stimmt die Hypothese von Yuval Harari, wonach die Wirtschaft den Menschen nicht mehr brauche?
Nein, denn dafür sprechen keine Fakten. Wenn wir uns die Wirklichkeit und nicht irgendwelche Hirngespinste ansehen, dann erkennen wir rasch, dass sich die Beschäftigungsquote, also der Anteil der Bevölkerung die Lohnarbeit nachgeht permanent ausweitet – man denke allein an die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit. Trotz Automatisierung treten immer mehr Menschen in den Produktionsprozess ein. Es ist einfach eine empirische Tatsache: Automatisierung führt zur Steigerung der Produktivität, aber nicht generell zur Ersetzung von Menschen durch Maschinen.

Sehen Sie keine Bedrohung für Beschäftigungsarten, die durch automatisierte Systeme obsolet werden?
Ich sehe keinen Strukturwandel, der dazu führt, dass weniger Menschen am Produktionsprozess beteiligt sind als früher. Historisch gesehen hat sich eine derartige Bedrohung trotz Technisierung nicht bewahrheitet. Es stimmt natürlich, dass es zu einer sinkenden Nachfrage in bestimmten Ökonomien für schlecht qualifizierte Arbeitnehmer kommt. Diese sind nicht nur durch die Automatisierung bedroht, sondern auch durch die Verlegung von Billigproduktion nach Südost-Asien. Das muss man sich dann im Detail ansehen, weil natürlich auch neue Jobs für schlecht qualifiziertes Personal, etwa im Bereich der persönlichen Dienstleistungen, entstehen. Eines ist aber ganz sicher richtig: Der Druck auf ungelernte Beschäftigte ist heute sicherlich größer als vor einigen Jahrzehnten, sie haben größere Schwierigkeiten, Jobs zu finden, und wenn sie welche finden sind diese sehr schlecht bezahlt.

Wie sieht unser ökonomisches Leben im Jahr 2030 aus?
Keine Ahnung (lacht). Derartige Prognosen halte ich nicht für klug. Neben einem technologischen Fortschritt, der nur schwer voraussagbar ist, gibt es den schwer einschätzbaren gesellschaftspolitischen Wandel. Hätte man uns im Jahre 1990 gefragt, wo wir 2010 stehen werden, wären wir bei vielen Dingen falsch gelegen.

Was ist an der Grundidee des Neoliberalismus falsch, einen antikommunistischen und antikapitalistischen Mittelweg zu gehen?
Wann soll das die Grundidee des Neoliberalismus gewesen sein?

Wenn wir uns etwa die Diskussionen vor dem zweiten Weltkrieg ansehen, wie den Gesprächsgipfel Colloque Walter Lippmann.
Da kommen wir in die Sphäre der Begriffsklauberei und Haarspalterei. Der Begriff des Neoliberalismus hat in den vergangenen 50 Jahren sein Gesicht verändert. Ursprünglich meinte der Begriff die Schule des Ordoliberalismus in Deutschland, die eigentlich dem heutigen Verständnis der sozialen Marktwirtschaft entspricht. Also sozialen Ausgleich, Bekämpfung von Monopolen und das Verhindern von Privilegien für mächtige Kapitalgruppen. Damals bedeutete der Begriff das Gegenteil von unserem heutigen Verständnis von Neoliberalismus. Seit 1970 handelt es sich um eine free-market und laissez-faire Ideologie, wonach Märkte so frei wie möglich agieren sollen. Wenn dabei manche unter die Räder kommen, dann ist es laut dieser Denkweise eine gerechte Marktentscheidung. Es hat keinen Sinn, wenn manche besserwisserisch meinen, dass Neoliberalismus etwas anderes bedeutet. Ein Begriff heißt das, was er in dem Moment für einen Großteil der Menschen, die ihn im Sprachgebrauch nutzen, bedeutet. Alles andere ist einfach nur Scholastik.

Woran liegt es, dass trotz der massiven Wirtschaftskrise neoliberale Parteien in Europa Wahlen gewinnen?
Es gibt nie nur einen Grund. Die Welt ist komplex und daher hat alles, was geschieht, multikausale Ursachen. Ein Grund für das Aufkommen der Marktideologie des Neoliberalismus ist mit Sicherheit, dass der keynesianische Mainstream in den 1970-er Jahren an seine Grenzen stieß und aufkommende Krisenerscheinungen nicht erklären konnte. Zugleich standen die neoliberalen Kräfte mit ihrem Konzept parat, während die sozialistische und sozialdemokratische Linke selbst an sich zu zweifeln begann. Jedoch fehlte es an eigenen Modernisierungskonzepten und so entwickelten sie sich ein bisschen in die Richtung des langsam entstehenden neoliberalen Mainstreams. Jetzt, nachdem uns der Neoliberalismus – simpel gesagt – die größte Wirtschaftskrise seit den 1930-er Jahren eingebrockt hat, ist es für die Linke schwierig darauf zu reagieren.

Hat das mit einer mangelnden Vermarktung von Alternativkonzepten zu tun oder gibt es die gar nicht?
Linke generell und Sozialdemokraten im Besonderen haben sich in den letzten 30 Jahren relativ wenig mit Ökonomie beschäftigt. Selbst wenn es ein Konzept gibt, mangelt es an Glaubwürdigkeit, da man zuvor jahrelang das gegenteilige Konzept mittrug. Eine erfolgreiche sozialdemokratische Politik war immer eine populäre und damit für die normalen Leute. Diese Glaubwürdigkeit geht aber verloren, wenn Mittelschicht-Bubis sich anziehen und so sprechen wie die technokratischen Eliten. Das sind alles Gründe, warum die demokratische und gemäßigte Linke es schwerer hat, an die Erfolge aus der Vergangenheit anzuknüpfen.

Robert Misik im AudiMax 2009 (Bild: Nick Wolfinger)
Robert Misik im AudiMax 2009 (Bild: Nick Wolfinger)

Kann die radikale Linke, wie etwa die SYRIZA in Griechenland, die neoliberale Hegemonie durchbrechen?
Man sollte hier nicht übertreiben oder je nach Standpunkt in Euphorie ausbrechen. Griechenland ist ein Sonderfall, weil die klassische Sozialdemokratie dort zusammenbrach. Diesen Platz hat eine radikale Linke vollständig ausgefüllt. Das ist etwas anderes als der plötzliche Aufstieg einer unabhängigen Linken in Spanien, die aber neben einer sozialdemokratischen Linken existiert. Das führt dazu, dass sich beide bekämpfen. In Deutschland etwa sehen wir eine sehr, sehr rechts gewordene SPD, die in Wirklichkeit bei wirtschaftspolitischen Konzepten rechts vom Internationalen Währungsfonds steht. Gleichzeitig gibt es eine politische Linke, in Form der Linkspartei, die das politische Spiel in Deutschland auch nicht lebendiger macht. Hier muss von Land zu Land unterschieden werden, Griechenland bleibt ein Sonderfall.

Thema Konsumkultur: Verliert Europa bei Unterzeichnung des transatlantischen Freihandelsabkommen einen Teil ihrer Identität?
Da ist eine große Portion an paranoider Übertreibung dabei. Hier wird nicht wirklich etwas eingeführt, das es nicht schon gibt. Es ist ja nicht so, dass es zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union dramatische Handelsbarrieren wie Schutzzölle gibt. Wir haben einen de facto freien Handel innerhalb dieser Zone. Die Grundidee von TTIP ist vorhandene Handelshemmnisse zu beseitigen, die automatische Produktzulassungen etwa in beiden Wirtschaftsräumen für Unternehmen erschweren. Das Hauptproblem, und daher gehört es bekämpft, ist die Privilegierung von großen Wirtschaftsakteuren. Es ist verrückt, dass ich als Unternehmer die Regierung eines Landes, das nicht meinem Hauptsitz entspricht, aufgrund von wirtschaftspolitischen Gesetzen klagen kann. Derartige Regelungen auf Volkswirtschaften wie die USA oder die Eurozone umzulegen, sind absurd.

Kommen wir nach Österreich: Gibt es hierzulande noch eine “echte“ linke Politik?
(lacht) Das kommt natürlich darauf an, was man unter echter linker Politik versteht. Gerade in Bezug auf die Euro-Krise ist Faymann im Vergleich zur holländischen oder deutschen Politik ein grundsatzorientierter Sozialdemokrat, geradezu eine Lichtgestalt. Gleichzeitig sehe ich keine erfolgsversprechende linke Politik in Österreich. Wobei auch hier differenziert werden sollte: Rot-Grün in Wien sind sicherlich linker und erfolgreicher als anderswo. Das gilt sicherlich nicht für den Bund und jedes einzelne Bundesland, das im Detail zu beurteilen ist. Die Sozialdemokratie in Österreich ist als Ganzes sicherlich eine sozialistischere Sozialdemokratie als die meisten in Europa. Sie hat aber ein dramatisches Problem mit ihrer Führung im Bund und das bereits seit dem Abtreten von Vranitzky. Auch davor war nicht alles Gold, was glänzt, aber seither ist alles Kohle, was nicht glänzt.

Warum lassen sich linke Parteien derart von der Integrationsdebatte vereinnahmen?
Die Situation ist nicht einfach. Seit ungefähr 30 Jahren gibt es eine xenophobe Stimmung in diesem Land. Begonnen hat es mit den Grenzöffnungen und den Migrationsströmen Ende der 1980-er Jahre. Dagegen zu argumentieren ist sicherlich schwer, insbesondere wenn eine starke rechtspopulistische Partei diese Stimmung benützt. Von daher gibt es immer eine Wackeltaktik zwischen Dagegenhalten und Zugehen gegenüber den Rechten. Mit dieser Ungenauigkeit begibt man sich in ein Dilemma, dem man eigentlich zu entfliehen versucht. Natürlich bringt die Massenmigration kulturelle Differenzen und neue soziale Unterklassen mit sich. Darüber nicht zu sprechen, weil man Angst hat in die Rassismus-Schiene zu rutschen, macht die Sache nicht besser. Diese Hemmung über Probleme offen zu sprechen, führte uns in die Scheiße, in der wir seit Jahrzehnten sitzen.

Die Bundeshauptstadt wählt noch in diesem Jahr. Bleibt Rot-Grün im Sattel?
Ich glaube Rot-Grün hat gut regiert, das war schon ganz in Ordnung. Das Problem ist natürlich, dass diese Koalition aufgrund des Verlusts der SPÖ-Absoluten entstand. Somit sind die Sozialdemokraten nicht gerade mit einer großen Euphorie in diese Regierung gegangen. Dieses Ursprungsproblem, also einen rot-grünen Geist zu entwickeln, haben sie in den vergangenen fünf Jahren nicht gelöst. Ein weiteres Problem ist der Gegenwind aus dem Bund. Menschen wählen bei Landtagswahlen nicht nur aufgrund von regionalen Fragen. Der SPÖ nützt dieser nicht, den Grünen eher schon. Natürlich wird die FPÖ zulegen, aber das hat wenig mit Wien zu tun. Ich denke, dass die Sozialdemokraten für ihre Verhältnisse dramatisch verlieren werden, wobei 40 Prozent werden sie schon bekommen. Die Grünen werden leicht gewinnen, letztlich sind wir dort wo wir immer sind in Wien: 56-60 Prozent stimmen links der Mitte ab.

Falls Alexander van der Bellen kandidiert, ist Österreich bereit für einen “grünen“ Staatspräsidenten?
Alexander van der Bellen spielt mittlerweile in einer anderen Liga und daher sehe ich ihn nicht als “grünen“ Kandidaten. Es hängt natürlich von den Gegenkandidaten ab, wenn etwa die SPÖ einen Hundstorfer und die ÖVP einen Pröll ins Rennen schicken. Dann wird die persönliche Reputation eines van der Bellen nicht über 20 Prozent hinausragen. Wenn aber eine oder beide Parteien sagt, uns ist diese Wahl nicht so wichtig, dann besteht natürlich eine Chance. Oder wenn die Sozialdemokraten offen seine Kandidatur unterstützen, dann hat er den Sieg in der Tasche. Aber das glaube ich nicht (lacht).

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?
Na, da gibt es viele. Ich würde beispielsweise Frau Merkel oder Herrn Schäuble gerne fragen, ob sie persönlich wirklich an ihre bizarre Austeritätspolitik glauben, oder ob sie nicht insgeheim wissen, dass diese eine Sackgasse ist und aus bloßen machtpolitischen Gründen an einer gescheiterten Politik festhalten, wissend, dass diese Europa ins Unglück stürzt.

Danke für das Gespräch.