Bereits mit 13 Jahren war der gebürtige Wiener auf den Straßen Österreichs, um für politische Ziele zu demonstrieren. Heute ist Alexander Pollak Sprecher der österreichischen Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch und meldet sich immer dann zu Wort, wenn es um die Ungerechtigkeit gegenüber Minderheiten und Schutzsuchenden geht. Im Interview spricht er über die fatale Flüchtlingspolitik Europas, den steigenden Hass gegenüber Musliminnen und Muslimen und darüber, was eine neuerliche FPÖ-Regierungsbeteiligung für Österreich bedeuten würde.
Wie gerecht ist die österreichische Gesellschaft?
Sie ist sicher nicht gerecht, aber natürlich ist die österreichische Gesellschaft weniger ungerecht als jene in vielen anderen Staaten dieser Welt. Es gibt hierzulande eine sehr große soziale Ungleichheit, Diskriminierungen aufgrund der Herkunft oder äußerer Merkmale sowie viele Hürden für Asylsuchende und ArbeitsmigrantInnen, die nach Österreich kommen. Von einer gerechten Gesellschaft sind wir noch weit entfernt.
Sehen Sie aktuell eher eine Veränderung zum Positiven oder zum Negativen?
In Bezug auf die soziale Ungleichheit deuten die statistischen Zahlen darauf hin, dass dieses Ungleichgewicht größer wird. Nach den starken Jahren des Wirtschaftswachstums und einer damit für viele Menschen verbundenen Mobilität nach oben, kam es in den vergangenen Jahren eher zu einer Stagnation sowie einer Entwicklung nach unten. Letzteres betrifft vor allem Menschen mit einem mittleren bis niedrigen Einkommen. Was das Zusammenleben betrifft, gibt es widersprüchliche Entwicklungen. Positiv sehe ich die neue Antidiskriminierungsgesetzgebung und eine gewisse Grundversorgung für Asylsuchende. Zugleich gibt es aber auch sehr viele Baustellen. Etwa der Asyl- und Flüchtlingsbereich, wo eine katastrophale Desintegrationsspolitik betrieben wird und der Integrationsminister die Augen vor der größten integrationspolitischen Herausforderung verschließt. Und es ist unsere Aufgabe hier weitere positive Entwicklungen voranzutreiben.
Wie schwierig ist so eine Aufgabe, wenn mediale Debatten zu diesen Thematiken oftmals sehr emotional geführt werden?
Ich denke, die gesamte Flüchtlingspolitik leidet darunter, dass so getan wird, als handle es sich nur um ein Randthema. Ein Randthema, das uns angeblich nicht so wirklich betrifft oder womit wir auch gar nichts zu tun haben. Das drückt sich in einer gewissen Abwehrpolitik aus, obwohl es in Europa eine solidarische Flüchtlingsaufnahmepolitik geben sollte. Wenn man von den einigen wenigen Resettlement-Programmen absieht, ist die Zielgröße für die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa quasi bei null. Es gibt daneben keine legalen Fluchtwege. Erst wenn die Menschen in Europa ankommen, beginnt man sich Gedanken zu machen, wie man mit ihnen umgeht. Diese von uns wegzuschieben führt dazu, dass Menschen auf so schreckliche Weisen ums Leben kommen.
Gab es in Ihrem Leben einen besonderen Moment, wo Ihnen klar wurde, dass Sie Ihr Leben diesen Aufgaben widmen wollen?
Ich war eigentlich schon immer ein sehr politischer Mensch. Meine ersten Erinnerungen gehen zurück an den Bundespräsidentschaftswahlkampf von Kurt Waldheim – damals war ich zum ersten Mal demonstrieren. Ich begann mich intensiv mit der NS-Vergangenheit des Landes, dem Antisemitismus und der Medienlandschaft zu beschäftigen. Man könnte sagen, dass ich bereits mit 13 Jahren politisiert wurde.
Was hat sich seitdem in Bezug auf die Vergangenheitsaufarbeitung verändert?
Rund um Waldheim und danach gab es eine sehr intensive Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und der Beteiligung Österreichs. Natürlich gab es auch danach Verleugnungen. Was sicherlich heute nur noch schwer vorstellbar ist, war die damalige Verbreitung und Instrumentalisierung von antisemitischen Vorurteilen in den Massenmedien, um Pro-Waldheim und gegen jüdische Organisationen mobil zu machen. Heute gibt es einen sehr vorurteilsgeprägten Diskurs gegenüber Musliminnen und Muslimen und islamischen Strömungen. Demnach hat es hier sicher eine Verschiebung gegeben.
Wie bewerten Sie die viel zitierten Probleme mit ZuwanderInnen? Etwa im Gemeindebau oder in den Schulen?
Es ist eine Utopie zu glauben, dass das Zusammenleben in einer Gesellschaft perfekt und friktionsfrei sein kann. Wenn ich in einem Haus wohne, gibt es Menschen, die laut sind, eine Party feiern oder die Waschmaschine in der Nacht laufen lassen. Es gibt aber unterschiedliche Möglichkeiten damit umzugehen: Ich kann es kommunikativ mit den Nachbarn lösen oder den Konflikt ethnisieren und die Menschen aufgrund ihrer Herkunft bewerten. Derzeit befinden wir uns in einer Phase, wo aufgrund der medialen Berichterstattung und vor allem durch die Instrumentalisierung durch die FPÖ diese Alltagskonflikte als ethnische und religiöse Probleme wahrgenommen werden. Das halte ich für problematisch. Zugleich gibt es natürlich problematische religiöse und politische Strömungen, die nicht zu bagatellisieren sind. Deswegen sollten aber banale Alltagskonflikte nicht ethnisiert werden. Menschen, die hier geboren sind oder auch schon einige Jahre hier leben, sollten nicht als Gäste, sondern als integraler Bestandteil dieser Gesellschaft gesehen werden.
Nehmen wir an, es gäbe in Europa keine Grenzen. Glauben Sie, dass die einzelnen Staaten einer uneingeschränkten Zuwanderung Stand halten könnten?
Am Ende des Tages sitzen wir alle in einem Boot und dieses Boot heißt Erde. Es gibt nur eine endliche Anzahl an Ressourcen, die wir uns teilen. Österreich lebt davon, dass es Rohstoffe, Waren und Lebensmittel importiert. Österreich ist kein autarkes Land, wir leben nicht auf einer Selbstversorgerinsel. Langfristig muss es möglich sein in einer Welt zu leben, die keine Grenzen hat. Natürlich ist ein solches Ziel kurzfristig nicht realisierbar. Man muss aber kleine Schritte in diese Richtung unternehmen, sodass wir auf diesem kleinen Planeten Erde zu einem nachhaltigen Lebensmodell kommen.
Welche Schritte wären das?
Man muss bei sich selbst beginnen. Solange es in Österreich religiöse oder ethnische Diskriminierung gibt, kommen wir nicht weiter. Es muss legale Fluchtwege nach Europa geben, eine europäische Einwanderungspolitik entstehen und Menschen ermöglicht werden, sich eine Arbeit zu suchen. Als ÖsterreicherIn hat man die sehr privilegierte Position ins EU-Ausland gehen zu können und somit so genannte WirtschaftsmigrantInnen zu werden. Und auch außerhalb Europas stehen uns sehr viele Möglichkeiten offen. Dieses soziale Ungleichgewicht muss man versuchen langsam aber stetig auszubalancieren.
2013 organisierten Sie die „Pass egal Wahl“. Gab es hier politische Konsequenzen?
Politisch hat sich nicht wirklich etwas weiterentwickelt. Es hat aber den teilnehmenden Menschen sehr viel bedeutet. Es waren Leute, die bislang noch nie in Österreich oder noch nie in ihrem Leben an einer Wahl teilgenommen haben. Da gab es einige sehr berührende Momente. Diese Menschen wollen an der Demokratie teilnehmen. Deshalb haben wir uns auch entschlossen, bei der kommenden Wien-Wahl eine Neuauflage der „Pass egal Wahl“ zu organisieren. Gerade in Wien ist mehr als ein Viertel der Wohnbevölkerung vom Recht den Gemeinderat zu wählen ausgeschlossen.
Warum tut sich Österreich hier so schwer?
Eine größere Wahlrechtsveränderung wäre nicht nur Bundessache, sondern müsste auch mit einer 2/3 Mehrheit im Parlament geschehen. Diese Mehrheit zu erlangen ist mit den derzeit vertretenen Parteien nur sehr schwer möglich, das ist uns auch bewusst. Zu viele setzen hier auf Polarisierung und darauf, dass sie Menschen gegeneinander ausspielen. Wir werden aber auch weiterhin Überzeugungsarbeit leisten.
Der 23. Jänner 1993 gilt sicher als Sternstunde ihrer Organisation. Wo sind die 300.000 Menschen des „Lichtermeer“ heute? Trauen sich Menschen heute weniger offen für etwas einzustehen?
Es ist nicht immer notwendig auf die Straße zu gehen. Gerade nach dem Lichtermeer hat sich sehr viel Positives in Bezug auf die österreichische Zivilgesellschaft getan. Wir haben heute eine wesentlich breitere und stärkere Zivilgesellschaft. In vielen Orten gibt es kleine Initiativen, die ehrenamtlich versuchen Flüchtlingen und Schutzsuchenden zu helfen. Viel an Engagement passiert heute nicht in Form von Demonstrationen, weil es einfach zahlreiche andere Möglichkeiten gibt, um sich zivilgesellschaftlich zu engagieren.
Übergriffe – verbal wie auch physisch – gegen MuslimInnen nehmen massiv zu. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Hier gibt es eine sehr negative Entwicklung, auch wir haben die vermehrten Angriffe im öffentlichen Raum, vor allem gegen Frauen mit einem Kopftuch, festgestellt. Wir sehen eine teilweise gehässige und undifferenzierte Medienberichterstattung, wo sehr gerne von „dem“ Islam gesprochen wird. Musliminnen und Muslime werden hier in einen Topf geworfen und politische Parteien treiben dieses Auseinanderdividieren zur Mehrheitsbevölkerung vehement voran. Dadurch entsteht eine sehr große Zerstörungskraft, die den sozialen Frieden bedroht. Und dagegen müssen wir unsere Stimme erheben. Wenn jemand Pöbeleien oder Übergriffe mitbekommt, dann soll er oder sie eingreifen oder die Polizei verständigen. Es muss klar sein, dass Hetze in Österreich keinen Platz haben darf.
In Deutschland brennen Moscheen und Asylheime. Entwickelt sich Europa ein wenig zurück in die frühen 90er Jahre?
Wir müssen uns mit der jetzigen Situation auseinandersetzen und die Probleme von heute lösen. Dort wo Asylunterkünfte sind oder errichtet werden, ist es sehr wichtig mit der dortigen Bevölkerung zu sprechen. An zahlreichen Orten in Österreich gab es Begegnungsveranstaltungen für neuankommende Asylsuchende und die ansässige Bevölkerung. Das waren sehr positive Veranstaltungen, wo viele Bedenken und Vorurteile ausgeräumt wurden. Beide Seiten konnten die Sorgen und Gedanken der anderen kennen und verstehen lernen. Die FPÖ hingegen versucht mit teils kriegerischen Begriffen wie „Invasoren“ Stimmung zu machen und das muss aufgebrochen werden. Dazu bedarf es Kommunikation und ja, hier wurden Fehler in der Politik gemacht. Wenn wie etwa in Tröglitz ein Asylheim in Brand gesteckt wird, darf man nicht zurückschreiten. Rechtsradikalen und Gewaltbereiten muss klar aufgezeigt werden, dass ihre Taten nicht dazu führen, dass weniger Menschen aufgenommen werden.
Die FPÖ wird bei den nächsten Nationalratswahlen ziemlich sicher auf eine Ebene mit SPÖ und ÖVP steigen. Was bedeutet eine mögliche blaue Regierungsbeteiligung für Österreich?
Es würde bedeuten, dass Menschen in Machtpositionen kommen, die ein rassistisches Weltbild vertreten. Diese Leute versuchen einen Keil zwischen die Menschen zu treiben und die Bürgerinnen und Bürger gegeneinander auszuspielen. Es würde auch bedeuten, dass Gelder für Integrations- und Flüchtlingsarbeit gekürzt und Menschenrechtsorganisationen nicht mehr gefördert werden. SOS Mitmensch ist diesbezüglich in einer guten Situation, wir sind unabhängig, aber für viele andere, die sehr wichtige Arbeit leisten, sind staatliche Förderungen überlebensnotwendig. Mit der FPÖ in der Regierung würde sich das Klima in Österreich insgesamt weiter verschärfen, gewaltbereite Menschen hätten das Gefühl, dass sie jetzt ihren Hass ausleben können. Es wäre mit Sicherheit eine sehr, sehr ungute Situation für das Zusammenleben in Österreich.
Wenn ich Ihnen eine Wunderlampe geben würde, was würden Sie sich für Österreich wünschen?
Puh, das ist eine gute Frage. Ich würde mir mehr Offenheit wünschen und dass Menschen erkennen, dass Vielfalt Normalität ist. Ein zweiter Wunsch wäre, dass es in Bezug auf die Flüchtlingspolitik keine halbherzige Politik mehr gibt. Menschen, die nach Österreich kommen, soll es vom ersten Tag an möglich sein Sprachkurse zu besuchen, sich weiterzubilden und nach kurzer Zeit Zugang zum Arbeitsmarkt zu erhalten. Mein dritter Wunsch wäre, dass es beim Thema soziale Gerechtigkeit zu keinem großen Auseinanderdriften kommt und dieser „Neiddiskurs“ gegen Menschen, die die Mindestsicherung beziehen und sehr wenig haben, aufhört. Im Gegenzug sollte bei denen, die viel haben, die Bereitschaft da sein, etwas davon abzugeben.
Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?
Da gibt es immer wieder Politikerinnen und Politiker, bei denen ich gerne nachhaken würde. Und es gibt eine Reihe an interessanten Persönlichkeiten, mit denen ein Interview zu führen lohnenswert wäre. Wenn ich einen Vorschlag machen soll, dann nenne ich gerne die Frau Bock.
Vielen Dank für das Gespräch!