Er ist der wohl bekannteste Tierrechtsaktivist Österreichs und Obmann des 1992 gegründeten Vereins gegen Tierfabriken (VGT). Martin Balluch ist studierter Astrophysiker, der sieben Jahre lang mit der Wissenschaftskoryphäe Stephen Hawking an der Universität Cambridge forschte. Internationale Bekanntheit erlangte der Wiener im Jahr 2008, als er im Zuge der sogenannten „Tierschutzcausa“ wegen des Vorwurfs der Bildung einer kriminellen Organisation für über drei Monate in Untersuchungshaft kam. Der langjährige Prozess endete in einem Freispruch. Im Interview spricht er über die Zeit im Gefängnis, den österreichischen Rechtsstaat, Stephen Hawking, den Überwachungswahn und über seine Vorstellung von einem moralisch korrekten Umgang mit der Tierwelt. Martin Balluch: Der Rechtsstaat hat versagt weiterlesen →
Sie ist die Frau mit den meisten grünen Landesstimmen in der Geschichte Österreichs. Astrid Rössler studierte Rechtswissenschaften und war viele Jahre als Unternehmensberaterin tätig. 2009 steigt sie in die Politik ein und wird umgehend in den Salzburger Landtag gewählt. Nur vier Jahre später erzielen die Grünen unter ihrer Führung sensationelle 20,18% und Rössler wird erste Landeshauptmann-Stellvertreterin. Im Interview spricht sie über Persönliches, Zeltlager für Flüchtlinge und ihre Vision für ein Verkehrskonzept der Zukunft. Astrid Rössler: Siedlungsgebiete müssen Verkehrsalternativen ermöglichen weiterlesen →
Er sitzt seit 1986 fast durchgehend im österreichischen Parlament und ist so etwas wie der Aufdecker der Nation. Der Grün-Abgeordnete Peter Pilz lässt sich nicht den Mund verbieten und eckt dort an, wo andere schon längst versuchen, etwas unter den Teppich zu kehren. Im Interview spricht er über seine rebellische Kindheit, die sexuelle Befreiung der Steiermark, den Sinn von Untersuchungsausschüssen, Stasi-Methoden und eine düstere Zukunft.
Gab es einen Moment in Ihrem Leben, wo Ihnen klar wurde, dass Sie in die Politik gehen wollen?
Als ich ungefähr 20 Jahre alt war, habe ich mir überlegt, was ich für den Rest meines Lebens machen möchte. Mir war damals nicht klar, welchen Beruf ich einmal haben werde, aber eines war sicher: Ich wollte keinen Chef haben. Ich wollte völlig autonom sein und über mich selbst und das, was ich tue, bestimmen. Ich weiß, dass ich damit viele grüne Parteivorstände nicht besonders glücklich gemacht habe, aber es ist mir weitgehend gelungen.
Waren Sie eigentlich schon als Kind bzw. Jugendlicher ein misstrauischer Mensch, der lieber zwei Mal nachfragte, wenn ihm etwas komisch vorkam?
Misstrauen ist der falsche Ausdruck, weil ich das Privileg habe in einer wunderbaren Familie zu leben, die mir sehr viel Vertrauen und Sicherheit geschenkt hat. Ich war eher ein streitlustiges Kind und diskutierte gerne. In der Schule hat sich das dann fortgesetzt. Das hat aber auch damit zu tun, dass ich in einem klassisch linkssozialistischen Elternhaus aufgewachsen bin. Damit war ich spätestens ab der Mittelschule in Auseinandersetzungen mit einem Großteil des Lehrpersonals verwickelt. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, welche Leute damals unterrichtet haben. Unser Klassenvorstand war ein glühender Nationalsozialist und unser Zeichenprofessor hat erklärt, dass die schönste Landschaft der Welt das Nürnberger Parteitagsgelände wäre. Ich bin dann aufgestanden und habe ihn aufgefordert, diese Aussage zurückzuziehen, andernfalls würde ich zum Direktor gehen. Da war ich 14 oder 15 Jahre alt.
Bild: Christoph Hopf
Wie hat er reagiert?
Ich bin zum Direktor gegangen und habe verlangt, dass er sich entschuldigt. Die wirklich große Entschuldigung kam aber erst später bei einer weiteren Entgleisung. Es gab andauernd Entgleisungen. Schulen waren damals anders. Da gab es zum einen die letzte große Nazigeneration, aber zum anderen auch eine gute Mischung aus sehr gescheiten, angenehmen Lehrern und wenigen Lehrerinnen. Der Zeichenprofessor war ein grandioser Zeichner, ich habe bis heute noch einige Blätter von ihm, weil er unter anderem unsere Huam – unser Bauernhaus – gezeichnet hat. Ich glaube auch nicht, dass er tief in seinem Herzen ein Nazi war. Er hat wohl im 3. Reich den Sozialisten gespielt und in im demokratischen Österreich den Nazi. Unser Klassenvorstand hingegen war wirklich ein überzeugter Nazi. Mit 15 oder 16 habe ich dann einen Streik organisiert, veranlasst durch meinen damals schon sagenhaften Heldenmut. Aber ich muss zugeben, dass es für mich leichter war so etwas auf die Beine zu stellen, weil mein Vater Vizebürgermeister und Betriebsratsobmann in Kapfenberg war (lacht). Da war im Hintergrund schon ein gewisses familiäres Drohpotential vorhanden, das von den Professoren durchaus ernst genommen wurde. Da ist man leichter mutig.
Sind Sie damals alleine aufgestanden oder haben sich viele aus Ihrer Klasse Ihrem Widerstand angeschlossen?
Die Mitschüler und die zwei Mitschülerinnen sind mitgegangen, das war damals selbstverständlich. Auch wenn sie nicht besonders aktiv waren, haben sie mich unterstützt. Damit war es nicht nur meine Geschichte. Wir waren jung, es war 1968 und wir hatten alle die Nase voll. Es gab neben den Wiederbetätigungen aber ein noch viel größeres Problem: In der großen Pause wurden wir von den Frauen getrennt. Die Schülerinnen durften im ersten Stock eine Viertelstunde spazieren gehen und wir im Erdgeschoss und im zweiten Stock. Meine zwei Mitschülerinnen mussten in der Pause raufgehen, sodass es zu keiner Mischung der Geschlechter kommt. Daraufhin habe ich mit ein paar Freunden wieder einen Streik der gesamten Oberstufe organisiert und wir haben gewonnen. Ich glaube, das war der Beginn der sexuellen Befreiung der Steiermark (lacht).
Aber im Ernst, das war eine Zeit der Emanzipation. Meine Eltern etwa waren große Freunde Israels und haben uns als Kinder blau-weiße Kappen mit einer israelischen Landkarte aufgesetzt. Diese große Sympathie war nicht nur als Widerstand gegen den noch immer verbreiteten Nationalsozialismus zu verstehen. Sie glaubten auch daran, dass die israelische Gewerkschaftsbewegung „Histadrut“ den Sozialismus verwirklicht. Dann wurde ich aber klarerweise als familieninterne Opposition ein glühender Anhänger der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO. Man kann sich vorstellen, wie unsere gemeinsamen Mittagessen abgelaufen sind. Bei der Suppe setzte ich zu einer Verherrlichung Arafats an und meine Eltern haben dementsprechend geantwortet (lacht). Da wurde ordentlich gestritten.
Bild: Christoph Hopf
War damals nicht bekannt, dass die Histadrut mehr als nur eine Gewerkschaft war? Arabische Arbeiterinnen und Arbeiter etwa wurden nicht aufgenommen.
Das war zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Als davon mehr und mehr an die Öffentlichkeit gelang, haben meine Eltern ihre Positionen geändert. Sie wurden PLO-freundlicher und nahmen eine immer kritischere Haltung zu den Entwicklungen in Israel ein. Die gesamte Debatte rund um Palästina und Israel kam erst viel später voran, davor war sie aus verständlichen Gründen überlagert von der österreichischen und deutschen Schuld gegenüber den Juden und Jüdinnen.
Heute gibt es immer weniger Zeitzeugen. Befürchten Sie, dass die jungen Menschen in 10-20 Jahren diese Ereignisse nicht mehr so bewusst wahrnehmen werden wie die jetzigen Generationen?
Ich glaube, dass wir schon sehr bald wieder daran erinnert werden. Wir leiden bereits jetzt an einem zu kurzen Gedächtnis. Wir haben eine politische Klasse, die sehr stark an ihre Vorgänger zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929 erinnert. Den größten Teil der Krise, und damit meine ich nicht nur die Wirtschaft, haben wir wahrscheinlich erst vor uns. Es war kein Zufall, dass es damals nur zwei Antworten auf eine ebenso große Herausforderung wie heute gab: die Antwort von Roosevelt und die von Hitler. Heute geht es nicht darum zu diskutieren, wer der neue europäische Hitler ist, so detailliert wiederholt sich die Geschichte nicht.
Aber die Europäische Union, deren Entwicklung wir seit langem unterstützen und begleiten, steht auf so dünnem Eis, dass ich bezweifle, dass sie noch eine weitere große Belastung aushält. Und jetzt reisst der Bruch zwischen Norden und Süden auf. Gleichzeitig haben wir dieses falsche Bild von „Charlie Hebdo“ und damit von uns. Diese falsche Vorstellung, wonach das aufgeklärte Europa auschließlich einem reaktionären und fanatischen Islam gegenübersteht. Ich glaube, dass wir als der linke Teil des aufgeklärten, liberalen Europas darüber reden sollten, wie unser Europa zwischen zwei Blöcke geraten sind. Wir stehen zwischen den deklassierten Inländern, die immer stärker rechtsextremen und nationalistischen Führern nachlaufen und den deklassierten Einwanderern, die ihr Heil im Islam suchen. Wenn wir nun keine Lösung für diese hoffnungslosen, verängstigten und wütenden Menschen finden, dann entsteht für uns alle ein großes Problem. Das alte, aufgeklärte Europa gerät zwischen zwei Blöcke. Aber nur gegen einen wird mobilisiert. Aber es ist doch so: Der islamistische Terror kann Europa verletzen, aber nur der Rechtsextremismus kann Europa zerstören. Jetzt haben wir zunehmend nationalistische Übergewichte in Moskau und Budapest und wir wissen letztlich nicht, was in Frankreich, Dänemark und Österreich passieren wird. Putin, Orban, Strache, Le Pen – das sind die Bomben am europäischen Körper.
Die hoffnungsvolleren Entwicklungen finden hauptsächlich am südlichen Rand Europas statt. Und nicht in den Kernländern. Jederzeit kann wieder etwas brechen, in der Folge von „Grexit“ mit einer möglichen Kettenreaktion oder dem Zerplatzen der Shanghaier Spekulationsblase. Wir sind derzeit der instabilste und zerbrechlichste Kontinent. Der politischen Kaste muss endlich bewusst werden, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Ich sitze derweil im Parlament und wundere mich über Europa-Diskussionen, wo gepredigt wird, dass wir TTIP und eine europäische Armee brauchen – und das als Antwort auf den sozialen Grabenbruch quer durch Europa. Das ist doch verrückt! Die Basis unseres Friedens ist der europäische Sozial- und Wohlfahrtsstaat. Bei Massenarmut und in einer schweren Krise ist dieser Kontinent immer kriegsgefährdet. Und dazu kommt zum ersten Mal seit 1945 die Frage, wie lange die deutsch-französische Achse noch belastbar ist. Wenn auch die bricht, ist alles möglich.
456 Anti-PEGIDA DemonstrantInnen, darunter auch Journalistinnen und Journalisten, droht eine Anklage wegen „Verhinderung oder Störung einer Versammlung“. Gegen das linke NoWKR-Bündnis läuft ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung. Wohin steuert Österreich?
Und es wird noch verrückter. Innenministerin Mikl-Leitner behauptet, wir benötigen mehr Instrumente und polizeiliche Rechte zur Bekämpfung des Terrorismus. Wenn wir alles zusammenfassen, was derzeit vom Innenministerium vorgeschlagen wird, dann sehen wir eine immense Ausweitung der Überwachungsmöglichkeiten und eine klare Entwicklung in Richtung Polizeistaat. Aber beim genaueren Hinsehen wird klar, dass die neuen Polizeivollmachten hervorragend gegen antifaschistische Demonstranten und Tierschützer, aber in keiner Weise gegen Austro-Dschihadisten funktionieren. Sie sind einfach nicht einsetzbar, weil gerade bei dem Einzeltäter die Gefährdungsmerkmale vollkommen fehlen. In Wirklichkeit entwickeln die Innenministerin, die ÖVP und damit die gesamte Bundesregierung ein Instrumentarium zur Verfolgung einer radikaleren politischen Opposition. Und da fällt ein weiterer Punkt auf: Unter den 456 vermeintlich Angeklagten sind zehn Journalistinnen und Journalisten. Die Innenministerin geht ja davon aus, dass gerade bereits angezeigte Personen diejenigen sind, die weiter präventiv überwacht werden müssen. Somit könnten in naher Zukunft anstatt von Austro-Dschihadisten Journalisten überwacht werden. Und das geschieht dann ganz legal. Das ist dann der Überwachungs- und Spitzelstaat.
Zum Glück gibt es noch grundlegende Unterschiede zur DDR, wie den Rechtsstaat und ein gewähltes Parlament. Damit können wir uns zur Wehr setzen. Die Polizei, speziell die Staatspolizei, nimmt aber immer mehr Züge einer Stasi an. Alles überwachen und bespitzeln und alles mit V-Leuten unterwandern, das sind Stasi-Konzepte. Bei der Homeland Security der USA und dem Spitzel-Staat der Frau Mikl-Leitner geht es darum, mit modernster Technik ein abweichendes Verhalten und damit unerwünschte Entwicklungen messen und überwachen zu können. Das zeigt die ungeheure Angst der herrschenden politischen Kaste vor dem, was kommen könnte. Nach wie vor glauben sie, dass sie das mit der Polizei verhindern können.
Bild: Christoph Hopf
Kommen wir zum Stichwort U-Ausschuss: Glauben Sie daran, dass diese Untersuchungen realpolitische Auswirkungen haben? Die Leute, die vorher gelogen haben, werden wohl auch unterEid weiterlügen…
Da ist uns doch schon vieles hervorragend gelungen, wie etwa der Korruptionsuntersuchungsausschuss. Ich genieße das Privileg einer täglichen Meinungsumfrage, weil mich ständig Leute auf der Straße auf meine Arbeit ansprechen. Wie damals, als wir mit den Untersuchungen begonnen haben und ich gefragt wurde, warum wir das machen, weil mit Sicherheit nichts dabei herausschauen wird und dass eh alle Politiker Gauner sind. Ein halbes Jahr später haben dieselben Leute gesagt, dass es unglaublich sei, was da alles publik wurde, aber es würde eh keine Folgen haben. Und das eh alle Politiker bis auf die Grünen Gauner seien. Diese Erkenntnis war zumindest für mich persönlich schon ein Fortschritt. Den nächsten Schritt muss die Strafjustiz machen. Wir werden sehen, ob es zu Anklagen und Verurteilungen kommt.
Da war der Fall Strasser sehr wichtig. Entscheidend aber wird der große Grasser-Prozess sein. Da besteht die Chance, dass die Menschen sehen, dass den Herrschaften auch Konsequenzen drohen. Und dann gibt es noch den Punkt „Geld zurück“. Überall dort, wo diese Republik bestohlen und geplündert wird, müssen wir uns das Geld zurückholen. Inzwischen sind immer mehr Menschen davon überzeugt, dass wir das schaffen können. Diese Erfolgsgeschichte wird zwar kurzzeitig durch den Streit rund um die Hypo-Untersuchung getrübt werden, aber weder der unsägliche Herr Krainer von der SPÖ, noch der Finanzminister mit seinen geschwärzten Akten sind für uns eine wirkliche Herausforderung. Das werden wir überwinden. Der Hypo-Ausschuss wird eine Erfolgsgeschichte, davon bin ich überzeugt.
Die politische Grüne ist so stark wie nie zuvor. Was wären die ersten Gesetze, auf die Sie drängen würden, wenn es die Grünen in die Bundesregierung schaffen?
Die wirklich große Herausforderung ist die radikale Umverteilung von Einkommen, Arbeit und Lebenschancen in Österreich. Die großen Fragen der nächsten zehn Jahre drehen sich im Kern um die Wirtschaft. Das klingt ungrün, aber sie sind entscheidend für die Zukunft der Republik, Europas und für die der Grünen. Die Frage ist, ob wir die politische Schlüsselpartei Österreichs werden wollen oder ob wir das bleiben, was wir sind – nämlich der beste und wichtigste politische „Beiwagen“, den es geben kann. Ich weiß nicht ob wir das schaffen oder ob das andere probieren müssen. Um etwas zu erreichen – und das geht über Österreich und über die Grünen hinaus – müssen wir aus den politischen Dachböden ausziehen und im Erdgeschoß neue Mehrheiten suchen, damit wir die rechtsextremen Strömungen aufhalten.
Bild: Christoph Hopf
Das grüne Projekt ist noch nicht so weit, dass es die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger überzeugt. Manchmal sind wir auch einfach zu wenig entschlossen. Bei uns Grünen gibt es manchmal ein Missverständnis in Bezug auf Türen. Der grüne Weg führt nicht durch jede Tür, die sich gerade öffnet. Manchmal geht die falsche Tür auf und es ist richtig, direkt daneben mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Das haben wir bereits einige Male erfolgreich gemacht und an dem wird sich auch nichts ändern. Der größte Fehler wäre, durch die falsche Tür zu gehen, obwohl man ein wunderbares grünes Loch durch die Wand daneben machen könnte.
Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?
Es gibt eine einzige Person, die mich in der österreichischen Politik immer schon fasziniert hat. Und das war Bruno Kreisky, auch wenn das nicht besonders originell ist. Er interessiert mich aber nicht, weil er so lange Kanzler war und die politische Wende geschafft hat, sondern weil es ihm gelungen ist, eine linksliberale Politik in großen Bereichen der Bevölkerung sympathisch, attraktiv und somit mehrheitsfähig zu machen. Er war der letzte österreichische Politiker, der in der Lage war eine Mehrheit für eine offene, liberale und solidarische Gesellschaft zu bilden. Und das finde ich faszinierend, weil die Leute vergessen haben, dass so etwas in Österreich möglich ist. Nicht die Menschen waren damals anders, sondern die Politiker und Politikerinnen.
Unter ihrer Führung gelang es den Grünen erstmals Teil einer Wiener Regierung zu sein. Maria Vassilakou hat in den vergangenen Jahren viele grüne Themen umgesetzt: von der Erweiterung der Parkraumwirtschaft über günstige Verkehrstickets bis hin zum Großprojekt Mariahilfer Straße. Nur wenige Tage nach dem überraschenden Wechsel von Senol Akkilic zur SPÖ und einer damit einhergehenden Blockade der Wahlrechtsreform spricht Wiens Vizebürgermeisterin erstmals ausführlich über den großen Vertrauensbruch. Weitere Themen des Interviews sind grüne Errungenschaften in der Hauptstadt, eine Koalition mit der FPÖ, politische Visionen und wie Mark Twain ihr über die Causa Akkilic hinweghilft.
Wie viel Vertrauen haben Sie noch in die SPÖ?
Für unsere Vision ist die Frage des Vertrauens eine sehr zentrale: Wir wollten, dass Rot-Grün ein funktionierendes Modell für eine Politikerneuerung in ganz Österreich wird. Davon sind wir aktuell aber leider weit entfernt. Vielleicht ist genau das der Grund für mein blankes Entsetzen in den letzten Tagen. Ich habe in den vergangenen Jahren tatsächlich an den Versuch geglaubt, dieses klassische Hickhack in der Politik und diese Kurzsichtigkeit des parteipolitischen Denkens zu überwinden. Mein Wunsch war, dass sich unsere zwei Parteien, die natürlich sehr unterschiedlich sind, auf das Wesentliche konzentrieren. Ich dachte es wäre möglich eine gemeinsame Mission zu formulieren, um den Stillstand zu überwinden, viel Neues zuzulassen und den Fokus auf soziale Gerechtigkeit und ökologische Projekte zu legen.
Und wir haben auch sehr viel davon geschafft, etwa die Neuerrichtung von Gemeindebauten, die Erweiterung der Parkraumbewirtschaftung, die höchste Mindestsicherung Österreichs für Kinder und Jugendliche, billigere Tickets für öffentliche Verkehrsmittel bis hin zur Fußgängerzone Mariahilferstraße. Diese Projekte verändern nicht nur die Stadt, sondern auch den Alltag der Menschen, und zwar zum Besseren. Und da schließt sich für mich der Kreis. Ich dachte, dass wir einen gemeinsamen Zugang haben. Dann kam dieses bitterböse Erwachen rund um den Abgang von Senol Akkilic und das finde ich einfach nur sehr schade. Zugegeben, es fällt mir gerade schwer zu jener Art von Politik zurück zu finden, die ich vorhin beschrieb.
Erinnern Sie sich an Ihr erstes Treffen mit Senol Akkilic?
Ich kenne ihn schon so lange, dass ich ehrlich gesagt keine konkrete Erinnerung an das erste Treffen habe. Es muss aber weit über 20 Jahre zurückliegen. Als ich zu den Grünen kam, waren wir gerade zwei von drei Migrantinnen und Migranten. Soviel sei dazu gesagt.
Glauben Sie, dass Sie sich jemals mit ihm versöhnen werden?
Ich wüsste nicht, was es bringen sollte.
Bild: Martin Juen
In den sozialen Medien sind Vorwürfe des Machterhalts laut geworden. Wie stehen Sie dazu?
Es geht nicht um einen Machterhalt, genau das ist der große Irrtum. Ich verstehe die Emotionen der Menschen, die sagen, das kann man sich nicht gefallen lassen. Das tut man eigentlich auch nicht. Wenn wir jetzt aber beleidigt oder gekränkt das Feld räumen, was haben wir dann erreicht? De facto sind es nur noch drei Monate bis zur Sommerpause und danach befinden wir uns bereits mitten in der heißen Phase des Wahlkampfs. Wie absurd wäre es diese wenigen Monate nicht dazu zu nützen, die Projekte, die uns sehr am Herzen liegen, voranzutreiben? Und wie absurd wäre es die Stadt einer im Machtrausch befindlichen SPÖ zu überlassen? Wir sind doch alle zu den Grünen gegangen, um zu kämpfen. Und kämpfen heißt nicht „es reicht“ zu sagen. Der Letzte, der das gesagt hat, war Wilhelm Molterer und was dann kam, das will ich nicht haben (lacht).
Alexander Van der Bellen kritisierte in unserem Interview, dass die Grünen einen Notariatsakt in Bezug auf die Wahlrechtsreform unterschrieben haben. War das ein Fehler?
Diese Einschätzung von ihm teile ich nicht ganz. Was ich nie wieder tun würde, ist eine derart peinliche Inszenierung mitzumachen. Doch der Kampf um ein faires und neues Wahlrecht in Wien geht ja viel weiter zurück, bis in die späten 1990er. Damals hatte sich die SPÖ dieses für sie förderliche Wahlrecht zurechtgezimmert. Und mit Sicherheit hat das dazu geführt, dass die SPÖ danach immer wieder mit weniger als 50% der Stimmen die Absolute erreichen konnte. Diese Ungerechtigkeit möchte ich seit meiner aktiven Zeit als Gemeinderätin 1996 beseitigen. Denn die Art und Weise, wie Parteien mit der Macht umgehen hängt auch davon ab wie sie überhaupt an die Macht kommen. Billige Macht kann sehr schnell missbraucht werden. Das bleibt nicht unbemerkt und führt unter anderem zu der weit verbreiteten Politikverdrossenheit. Und das ist mit Schuld daran, dass die Sozialdemokratie europaweit gerade erodiert. Was mich zu der Frage des Machterhalts zurückbringt: Den Teufel werde ich tun, diesen Kampf gegen Ungerechtigkeit aufzugeben!
Was würden Sie bei einer eventuellen Koalitionsneuauflage anders machen, um die Wahlrechtsreform doch noch durchzubringen?
Ich fürchte, da hat die SPÖ die Tür zum Kompromiss geschlossen. Hätte die SPÖ wirklich einen ehrlichen Kompromiss angestrebt, dann hätten wir ihn auch erreicht. Auch wenn wir damit keine perfekte Lösung erzielt hätten, im Leben ist selten etwas perfekt. Mit ihrer skrupellosen und unehrlichen Art hat die SPÖ es geschafft, das Kapitel Wahlrechtsreform vorerst zu beenden. Und mit wem die SPÖ auch immer nach der Wahl verhandelt, keine Partei, die dieses Schauspiel vom vergangenen Freitag (27. März 2015) erlebt hat, wird es ignorieren können. Diesen Stil und diese „Allmachtdemonstration“ vergessen auch die Wählerinnen und Wähler nicht, da bin ich sicher. Und ich gehe von einem Wahlergebnis aus, dass der SPÖ einige Verluste aufgrund dieses Verhaltens einbringen wird. Und das war es dann auch. Ich möchte kein antikes Klageweib auf alle Ewigkeit sein, ich bin nicht Elektra (lacht). Mir ist es wichtiger Projekte voranzutreiben, wie etwa eine verkehrsberuhigte Zone in allen Bezirken Wiens, faire Mieten in den Altbauten und eine Kindergartengarantie für jedes Kind ab zwei. Und wenn die SPÖ wie sie jetzt ist, die Krot‘ ist, die ich dazu schlucken muss, dann schluck ich sie.
Bild: Martin Juen
Können Sie sich eine Koalition mit Blau-Schwarz bzw. NEOS vorstellen?
Nein, denn dazu würde die FPÖ gehören und das ist für mich undenkbar. Mit einer solchen reaktionären und faschistoiden Kraft ist ein gemeinsames Regieren nicht möglich. Anders denkt hingegen die SPÖ, die den von Spindoktoren inszenierten Kampf um Wien hochstilisiert, aber genau weiß, dass sie von der FPÖ nicht aus dem Amt gejagt werden kann. Denn es gibt ja bereits einige rot-blaue Gemeinden. Aber da geht es natürlich auch um Stimmenmaximierung. Jedes Kind in Wien weiß, dass der Strache hier nie etwas werden wird. Diese Vermittlung eines Bedrohungsszenarios, wonach sich alle sinisteren Kräfte zusammentun, ist lächerlich. Starke Grüne sind der Garant dafür, dass keine andere Mehrheit ohne SPÖ regieren kann.
Blicken wir zurück auf die vergangenen fünf Jahre. Sind Sie zufrieden? Mehr als 130 000 Wiener Alleinerzieherinnen leben in Armut. Wie kann so etwas passieren?
Wir leben noch immer in einer Gesellschaft, wo Mädchen leider in Klischees gepresst werden. Dazu kommt eine Schul- und Bildungspolitik, die ebenfalls zu wenig Bedacht darauf nimmt, das klassische Bild des Mannes als Erhalter der Familie und der Frau als Mutter zu durchbrechen. Das führt dazu, dass viele junge Frauen nach der Geburt ihrer Kinder viele Jahre auf ihre Arbeit verzichten. Das kombiniert mit der Scheidungsstatistik ist die größte Armutsfalle, in die junge Frauen tappen. Arbeitslos und zwei kleine Kinder an der Hand, das war‘s. Damit einhergehend ist eine vermeintlich lebenslange Abhängigkeit von einem Mann, der vielleicht Alimente bezahlt oder auch nicht.
Haben die Grünen hier zu wenig gemacht?
Die Grünen haben in ihrer ersten Legislaturperiode ihren Schwerpunkt auf Sozialpolitik gelegt, daher auch die bereits erwähnte höchste Kindermindestsicherung. Und das ist zumindest eine Antwort. Ich gebe zu, dass das eher eine Symptombekämpfung als eine Ursachenbeseitigung ist. Ich verspreche aber in den kommenden Jahren unseren Schwerpunkt auf Kinderbetreuung im Kindergarten und in der Schule zu legen. Wenn ich Rahmenbedingungen für junge Frauen schaffe, die es ermöglichen, die ersten Jahre nach der Geburt optimal für sich zu gestalten, dann ist das die bestmögliche Frauenpolitik. Es ist verantwortungslos, dauernd zu betonen wie wichtig Frauenförderung ist, aber gleichzeitig das System der Kinderbetreuung nicht so zu gestalten, dass
junge Frauen tatsächlich die Möglichkeit haben, in ihrem Berufsleben keine Abstriche machen zu müssen. Deswegen brauchen wir eine Kindergartenplatzgarantie.
Bild: Martin Juen
Wie sind Sie mit dem Zusammenleben in Wien zufrieden?
Zufrieden sollte man niemals sein. Im Vergleich zu anderen Städten in Europa steht Wien jedoch sehr gut da. Wichtig war vor allem, dass die Mieten in den gründerzeitlichen Wohnungen lange Zeit günstig waren. Somit konnte einer Ghettoisierung wie etwa in den Vororten Paris sehr gut entgegengewirkt werden. Zuwanderinnen und Zuwanderer konnten sich über eine lange Zeit, verteilt über das gesamte Stadtgebiet, vor allem innerstädtisch, sehr gut niederlassen. Das ist ein zentraler Erfolgsfaktor für den sozialen Frieden in unserer Stadt. Es gibt aber auch bei uns noch viele Verbesserungsmöglichkeiten, wie etwa in den Schulen.
Es liegt auf der Hand, dass sich das Schulsystem bei mehr als 50% an Kindern mit Migrationshintergrund radikal ändern muss. Jedes Kind soll bei der Einschulung ausreichend Deutsch können, um dem Unterricht optimal folgen zu können. Die Mehrsprachigkeit ist aber keine Last, sondern eine Chance, in die man investieren muss. Von dieser Art von Schule sind wir aber leider sehr weit entfernt. Scheitert ein Kind bereits in der Volksschule, erben wir einen frustrierten Jugendlichen, der sich irgendwann zu einem „Druckkochtopf“ entwickelt, der eines Tages explodiert. Gnade Gott demjenigen, der dann in der Nähe ist. Vor diesem Hintergrund kann man sehen, wie und woher die Beute für Hassprediger und Radikalisierung kommt.
Was ist ihr persönliches Ziel für die Wahl 2015?
Das bestmögliche grüne Wahlergebnis zu erzielen, wobei ich denke, dass 15 Prozent eine sehr gute Basis für Grüne in der Regierung wären. Und ich will die Grünen in die nächste Regierung führen.
Bild: Martin Juen
Wird es jemals eine Wiener Bürgermeisterin Vassilakou geben?
(lacht) Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, ich wäre nicht gern Bürgermeisterin von Wien. Aber ich fürchte die absolute Mehrheit wird sich bei der nächsten Wahl noch nicht einstellen.
Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?
Mark Twain. Er war ein unglaublich brillanter Geist, ein politisch sehr versierter und bewegter Mensch. Ein Philosoph im wahrsten Sinne des Wortes. Und ein Revoluzzer. Er spendet mir bis heute noch ein Trost, wie etwa am vergangenen Freitag, als mir einfiel: „When we remember we are all mad, the mysteries disappear and life stands explained.”
Alexander Van der Bellen lenkte elf Jahre lang die Geschicke der Grünen in Österreich. Er übernahm die Partei bei einem Stimmenanteil von fünf Prozent, den er innerhalb von neun Jahren verdoppeln konnte. Seine politische Leidenschaft gilt insbesondere der Energie- und Bildungspolitik. Im Interview spricht er über die Fehler der Grünen, seine Kritik am europäischen Umgang mit Russland und darüber, was er über die Debatte einer möglichen Kandidatur bei der Bundespräsidentschaftswahl 2016 denkt.
Sie treten bei der kommenden Wien-Wahl nicht mehr an. Haben Sie genug von der Politik?
Naja, genug von der Politik? Das klingt so negativ. Ich lernte die lokale Politik kennen, fand sie interessant und habe mein Bestes gegeben. Vor allem im Hinblick auf die Hochschulen in Wien.
Wie bewerten Sie rückblickend die erste rot-grüne Regierung in Wien?
Für mich ist die Mariahilferstraße das Vorzeigeprojekt schlechthin. Nicht nur weil ich dort unmittelbarer Anrainer bin, sondern generell. Ich finde das muss man schon erleben, wenn man die Einkaufsstraße entlang spaziert und dieses völlig neue Ambiente spürt. Es ist entspannter und man betrachtet in Ruhe die historischen Fassaden der Häuser. Obwohl ich bereits hundertmal vorbeigegangen bin, entdeckte ich erst kürzlich ein Gebäudeportal der „Zentralsparkasse der Stadt Wien“. Eigentlich sollte dieses unter Denkmalschutz stehen, denn die Zentralsparkasse gibt es ja schon lange nicht mehr. Solche Kleinigkeiten gefallen mir.
Sind bei diesem Projekt Fehler passiert?
Na ja, letztlich ist die Befragung ja positiv ausgegangen. Diese sogenannte Abstimmung, die rein rechtlich gesehen eine Umfrage war, wurde de facto zu einer Abstimmung über die Stadtpolitik. Erst in letzter Sekunde konnte die Mehrheit der Bevölkerung von der Neugestaltung überzeugt werden. Und das vor allem dank der intensiven Hausbesuche. Selbst die, die davor noch dagegen waren, merkten, dass die Grünen mit Leidenschaft für das Projekt kämpften. Das spielte dann doch noch eine gewisse Rolle.
Fehlt diese Bürgernähe in der heutigen Politik?
Ich tue mir sehr schwer in der Beurteilung. In diesem konkreten Fall war es sehr wichtig und eventuell auch entscheidend. Ich bin diesbezüglich etwas zurückhaltend, weil Hausbesuche nicht meins sind (lacht). Dazu ist mir die Wahrung von Distanz zu wichtig.
Bild: Christoph Hopf
Wie schwer regiert man mit jemandem, der einen nicht mag? Die SPÖ wollte bestimmt keine Koalition…
Die SPÖ tut sich schwer damit, nach 100 Jahren absoluter Mehrheit endlich zu registrieren, dass diese Zeiten ein für alle Mal vorbei sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPÖ bei den kommenden Wahlen die Absolute zurückgewinnen wird. Wahlrecht hin, Wahlrecht her. Und das merkt man auf Schritt und Tritt. Die SPÖ betrachtet Wien als ihren Besitz und alles, was das irgendwie in Frage stellt, ist fast schon Blasphemie in den Augen der Sozialdemokraten.
Wie gehen die Grünen bei einer möglichen Neuauflage der Koalition mit der Wahlrechtsreform um?
Da spielen mehrere Dinge eine Rolle. Auf grüner Seite sind einige Fehler passiert. Erstens, man unterschreibt grundsätzlich keinen Notariatsakt, das habe ich in der Politik gelernt (lacht). Zweitens verhandelt man ein derart heikles Thema, wo ein Partner, in diesem Fall die SPÖ, etwas zu verlieren hat am Anfang der Legislaturperiode und nicht kurz vor dem Ende. Ich persönlich finde das Wahlrecht nicht so furchtbar. Was mich viel mehr irritiert, und das ist völlig außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung, ist, dass die SPÖ in allen Wiener Ausschüssen die absolute Mehrheit hat. Und das obwohl sie im Plenum des Gemeinderats bzw. des Landtags natürlich nicht die absolute Mehrheit hat. Ich komme aus dem Parlament und da wäre so etwas undenkbar. Dort werden immer die Verhältnisse des Plenums abgebildet. Nicht so in Wien. Als ich eines Tages noch ein wenig schläfrig im Europaausschuss saß, fiel mir auf, dass ich ganz alleine war. Die Grünen hatten genau einen Sitz gegenüber acht SPÖlern. Die Mehrheitsverhältnisse sind aber nicht 8:1. Und somit kann die SPÖ einen Beschluss des Plenums problemlos im Ausschuss blockieren. Im Nationalrat wäre das undenkbar.
Die Grünen sind in so vielen Landesregierungen wie nie zuvor. Linke Proteststimmen oder ist Österreich “grüner“ geworden?
Das Linksetikett im Zusammenhang mit den Grünen ist irreführend. Ein italienischer Philosoph bezeichnete die grüne Ideologie als transversal, also quer durch. Gesellschafts- und sicherheitspolitisch sicherlich links, aber der Kern, nämlich Ökologie und Umweltschutz, hat etwas konservatives. Es soll etwas bewahrt werden. Auf katholischer Seite heißt es Bewahrung der Schöpfung und wir nennen es trocken Umweltschutz. Da kommt man mit dem Links-Rechts-Schema nicht wirklich weiter. Auf Länderebene besteht zudem ein Unterschied zwischen den linkeren Grünen in Wien und denen in den Bundesländern. Im Übrigen haben sie einfach gut und professionell gearbeitet und wurden in den Wahlen und dann bei den Koalitionsverhandlungen dafür belohnt.
Was unterscheidet die Grünen von heute von denen vor 20 Jahren?
Vor 20 Jahren, das war im Jahre 1995. Ein Krisenjahr für die Grüne Bewegung, wir sind bei den Nationalratswahlen fast aus dem Parlament geflogen. Ich habe den Einzug gerade noch um ein paar Millimeter geschafft. Es gab damals noch Anfangsschwierigkeiten wie unklare Strukturen, heute sind die Grünen viel professioneller. Etwa in der Medienarbeit und in der Verwendung genauer Zielgruppenanalysen. Das alles ist auf den ersten Blick nicht entscheidend, aber das sind notwendige Bedingungen für das Überleben einer Partei.
Bild: Christoph Hopf
Warum lässt sich eine Partei wie die Grünen derart von der Integrationsdebatte vereinnahmen? Stichwort Efgani Dönmez.
Ich sehe das nicht so. Effi Dönmez provoziert gern, auch die eigenen Leute. Aber man sollte auch fragen, was er damit bezweckt. Oft geht es ihm um die Blauäugigkeit, die es auf grüner Seite gegeben hat. Ich kann mich noch erinnern, das war vor ungefähr 20 Jahren, als ein FPÖ-Politiker im Nationalrat erwähnte, dass es in Wien Pflichtschulen mit einem 60-70%igen Anteil nicht-deutschsprachiger Schülerinnen und Schülern gäbe. Bei uns, einem damals sehr kleinen Klub, war die Empörung groß. Aber ich wusste, weil meine Frau damals Volksschullehrerin in Ottakring war, dass dieser Anteil in ihrer Klasse bei über 90% lag. Und das ist nun mal eine Herausforderung für die Lehrerin, die Direktion und den Bezirksinspektor. Triviale Fragen tauchten schon damals auf: Was ist mit dem muslimischen Mädchen im Schwimmunterricht und ihren konservativen Eltern? Du musst mit den Leuten reden und ihnen vermitteln, dass alle Kinder gleichwertig sind und ihnen Chancen ermöglicht werden müssen. Die meisten verstehen das dann auch. Diese Sachen müssen wahrgenommen werden und können nicht einfach negiert werden.
Kommt man mit Beleidigungen wie “Kameltreiber“ weiter?
Nein, da haben Sie natürlich Recht. Das war ein Fehlgriff der Sonderklasse.
Stichwort Wr. Neustadt: Haben Sie die Hysterie um die Wahl des neuen Bürgermeisters nachvollziehen können?
Ich denke, dabei handelt es sich um eine sehr lokale Geschichte. Wr. Neustadt war über Jahrzehnte hinweg in roter Hand. Der neue ÖVP-Bürgermeister ist aber ein Intimus von Landeshauptmann Pröll und da muss man sich schon überlegen, ob man so jemanden unterstützt. Das ist kein schlichter Machtwechsel, sondern kann als Übergang von der feudalen SPÖ zur feudalen ÖVP interpretiert werden. Das einen das aufregt, jenseits der Diskussion rund um die FPÖ, ist verständlich. Ich weiß nicht, wie ich als Wr. Neustädter reagiert hätte. Als Außenstehender ist das schwer zu beurteilen. Ich kann schon verstehen, dass man einen Machtwechsel möchte, aber muss es genau ein solcher sein?
Von der Innenpolitik hinaus in die Welt: Sollte Österreich eine gewichtigere außenpolitische Rolle wie zu Zeiten von Bruno Kreisky übernehmen?
Ja, sollte es. Aber das ist offenbar seit mehr als 20 Jahren nicht das Ziel der österreichischen Politik. Das sieht man nicht zuletzt am immer kleiner werdenden Budget des Außenministeriums, besonders unter Minister Spindelegger. Wenn Botschaften und Konsulate geschlossen werden und das Personal im Ministerium gekürzt wird, dann wird es umso schwieriger, außenpolitischen Einfluss zu entfalten. Es war auch ein Fehler die UN-Soldaten des Bundesheers nach mehr als 35 Jahren praktisch über Nacht vom Golan abzuziehen.
Schiebt Österreich diese Agenden in Richtung Brüssel?
Österreich ist schon sehr viel provinzieller geworden was die Außenpolitik betrifft.
Bringt Außenminister Kurz eine Veränderung?
Er hat eine gute Presse und er hat auch alle überrascht. Jemand, der keine 30 ist, sich ohne große Fehler auf diesem so genannten Parkett bewegt, das ist schon eine sehr gute Leistung. Außenpolitik erfordert normalerweise jahrelanges Engagement. Peter Schieder von der SPÖ war hier ein Musterbeispiel. Von Anfang an hat er internationale Kontakte aufgebaut und gepflegt. Das geht leider zunehmend verloren in Österreich.
Bild: Christoph Hopf
Zuerst Georgien, dann Ukraine: Wie bewerten Sie den Umgang Europas mit Russland?
Ich glaube, wenn ich mich öffentlich dazu geäußert hätte, wäre ich als Putin-Versteher diffamiert worden. Ich finde es skandalös, wie nahezu die gesamte europäische Presse, Österreich ist da keine Ausnahme, nicht einmal versucht russische Positionen zu verstehen. Die Krim war nie ukrainisch, außer in den letzten 50 Jahren. Chruschtschow hat die Halbinsel aus unerfindlichen Gründen damals der Ukraine angegliedert. Wenn es eine indigene Bevölkerung dort gibt, dann sind das die Tataren, sicher nicht die Ukrainer. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die militärisch-strategische Position Russlands. Als 1989 der eiserne Vorhang fiel und die Wiedervereinigung Deutschlands bevorstand, ist Russland zugesichert worden, dass die NATO-Grenze nicht weiter nach Osten verschoben wird. Das geht aus US-Quellen hervor. Die Russen haben aber das Pech, dass das niemals schriftlich vereinbart wurde. Und was ist passiert? Die NATO-Ostgrenze verläuft heute direkt an den Grenzen zu Russland. Ich kann schon verstehen, dass das ein Stirnrunzeln in Russland hervorruft. Wenn Sie 200 Jahre zurückgehen, woher kamen alle Invasoren? Alle durch die Ukraine. Deswegen bin ich sehr erbost, wenn gesagt wird, dass von der Ukraine keine militärische Gefahr ausgeht. Ja natürlich, von der Ukraine selbst nicht, aber dass es sich um ein strategisches Vorfeld Russlands handelt, ist doch klar. Wie haben die USA in den letzten 100 Jahren reagiert, wenn vor ihrer Haustür eine potenzielle Gefahr entstand? Die haben sich auch nicht um das Völkerrecht gekümmert. Da wird mit zweierlei Maß gemessen. Ungeachtet all dieser Faktoren ist das Ukraineproblem lösbar. Aber es scheint auf beiden Seiten keinen guten Willen zu geben.
Gehen wir noch ein weniger südlicher auf der Landkarte. Hatten Sie jemals den Eindruck, dass der Arabische Frühling zu einer echten Demokratisierung im Nahen Osten führt?
Ich war nie euphorisch, muss ich gestehen. Und das aus einem einfachen Grund: Was sind wesentliche Elemente einer funktionierenden Demokratie? Es geht nicht darum, dass die Mehrheit entscheidet. Bevor man die Mehrheit entscheiden lässt, muss klar sein, worüber sie nicht entscheiden darf. Wenn ich in einem Land wie dem Irak plötzlich Wahlen ausschreibe und mir keine Gedanken über die unterschiedlichen Gruppierungen mache, dann wird Schlimmes passieren. Die Mehrheit wird die Minderheit unterdrücken. Man muss kein Prophet sein, um ein solches Szenario vorherzusagen. Wir hatten im Nationalratsklub lange vor dem Arabischen Frühling die Nahostexpertin Karin Kneissl zu Besuch. Sie sagte damals etwas sehr bemerkenswertes: Viel wichtiger als Demokratie, ist die Einführung von rechtsstaatlichen Mindeststandards. Das heißt etwa, dass nicht der Onkel verhaftet wird, wenn gegen den Neffen etwas vorliegt. Das ist ausschlaggebender als alles andere. Ich gebe aber zu, man steht oft vor beschissenen Entscheidungen. Ich war für die Intervention der NATO in Libyen, weil glaubhafte Belege vorlagen, dass Gaddafi die Stadt Bengasi mit tausenden Toten zerstört hätte. Aber das Bombardement hat hundert Jahre alte Stammeskulturen neu aufleben lassen. Wenn ich schon meine Fehler aufzähle: Ich war auch für die Waffenlieferungen an die afghanisch-indigene Bevölkerung nach der sowjetischen Invasion.
Das sehen Sie als Fehler?
Man hätte sich einige tausende Tote erspart. Hat sich irgendetwas verändert? Man ist die sowjetische Besatzung losgeworden und die Taliban sind an die Macht gekommen. Hmm, seufz.
Noch einmal zurück nach Österreich: Welche politische Schlagzeile wollen Sie im Superwahljahr 2018 lesen?
Es sollten ein paar Baustellen beseitigt sein. Von der Hypo-Alpe-Adria bis zur Durchsetzung von Energieeffizienz und erneuerbaren Energien. Dass Österreich den Klimawandel nicht ernst nimmt, das geht mir schwer auf die Nerven. Und dass das rot-schwarze Kartell endlich ein Ende hat, das war der einzige Punkt, bei dem ich mit Jörg Haider einer Meinung war. Es ist erstaunlich, wie langsam sich Österreich verändert.
Bild: Christoph Hopf
Nervt es Sie, wenn Sie ständig nach einer möglichen Präsidentschafts-Kandidatur gefragt werden?
Ja, schon. Ich habe dazu alles gesagt, was zu sagen ist. Die Wahlen finden erst in einem Jahr statt und die Kandidaten stellen sich üblicherweise zum Jahreswechsel vor. Warum soll man zu Amtszeiten von Heinz Fischer diese Debatte lostreten?
Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?
Ich möchte gerne mit Ferdinand Lacina auf einen Kaffee gehen, um mir die Geschichte von Professor Borodajkewycz erzählen zu lassen. Nach 1945 saßen an den Universitäten viele politisch Neutrale, Stockkonservative, Reaktionäre und Altnazis. Aber keine Juden und praktisch keine Sozialdemokraten. Und dieser Borodajkewycz war ein Nazi und Antisemit, der an der Hochschule für Welthandel unterrichtete. Ferdinand Lacina studierte dort und stenographierte gemeinsam mit ein, zwei anderen bei den Vorlesungen. Das hat er dann publik gemacht. Daraufhin kam es zu Demonstrationen in Wien, bei denen ein Pensionist, der gegen Borodajkewycz demonstriert hat, zu Tode gekommen ist. Das war Ernst Kirchweger. Lacina als Augenzeugen dieser Geschichte würde ich sehr gerne zuhören.
Vielen Dank für das Gespräch!
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