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Stimeder: Süß, was Vice- und Buzzfeed-LeserInnen schockiert

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Er tat das, woran viele im Zeitalter von digitalen Medien nicht mehr glaubten. 2003 gründete Klaus Stimeder das mehrfach ausgzeichnete Monatsmagazin DATUM. Sieben Jahre später entschied sich der langjährige Sportjournalist und Außenpolitikreporter das Ruder abzugeben. Mittlerweile lebt Stimeder in den USA, schreibt Bücher wie „Hier ist Berlin“ und „Stories 1995-2015“. Im Interview spricht er über die Mühen und Freuden einer Mediengründung, dem Trashtalk von Vice und Co. und einem unbekannten aber magischen Ort in New York.

Martin Balluch: Der Rechtsstaat hat versagt

Er ist der wohl bekannteste Tierrechtsaktivist Österreichs und Obmann des 1992 gegründeten Vereins gegen Tierfabriken (VGT). Martin Balluch ist studierter Astrophysiker, der sieben Jahre lang mit der Wissenschaftskoryphäe Stephen Hawking an der Universität Cambridge forschte. Internationale Bekanntheit erlangte der Wiener im Jahr 2008, als er im Zuge der sogenannten „Tierschutzcausa“ wegen des Vorwurfs der Bildung einer kriminellen Organisation für über drei Monate in Untersuchungshaft kam. Der langjährige Prozess endete in einem Freispruch. Im Interview spricht er über die Zeit im Gefängnis, den österreichischen Rechtsstaat, Stephen Hawking, den Überwachungswahn und über seine Vorstellung von einem moralisch korrekten Umgang mit der Tierwelt.

Astrid Rössler: Siedlungsgebiete müssen Verkehrsalternativen ermöglichen

Sie ist die Frau mit den meisten grünen Landesstimmen in der Geschichte Österreichs. Astrid Rössler studierte Rechtswissenschaften und war viele Jahre als Unternehmensberaterin tätig. 2009 steigt sie in die Politik ein und wird umgehend in den Salzburger Landtag gewählt. Nur vier Jahre später erzielen die Grünen unter ihrer Führung sensationelle 20,18% und Rössler wird erste  Landeshauptmann-Stellvertreterin. Im Interview spricht sie über Persönliches, Zeltlager für Flüchtlinge und ihre Vision für ein Verkehrskonzept der Zukunft.

Cengiz Günay: Erdogan ist mit Sicherheit kein Diktator

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Seit mehr als 15 Jahren forscht er zu den Bereichen Islamismus und Demokratie sowie zu den politischen Transformationsprozessen in der Türkei. Cengiz Günay arbeitet am renommierten Österreichischen Institut für internationale Politik (OIIP), das sich unter anderem der außenpolitischen Analyse und der Politikberatung widmet. Im Gespräch analysiert er die jüngste innenpolitische Krise der Türkei, die Situation der Kurdinnen und Kurden und die außenpolitischen Ambitionen des Landes am Bosporus.

Ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ein Diktator?

(lacht) Nein, er ist kein Diktator. Er ist vom Volk gewählt und die Türkei ist trotz aller Probleme und Entwicklungen, die stark zu kritisieren sind, weiterhin ein demokratisches Land. Er ist aber ein Politiker mit einem Hang zum autoritären Handeln und jemand, der die Grenzen der Demokratie stark austestet. Demokratie hat einen bestimmten Rahmen, den die Verfassung bietet, und jede Demokratie ist ausreizbar, es hängt nur damit zusammen, wie weit das System oder einzelne Personen gehen möchten. Erdogan ist sicherlich jemand, der sehr weit geht. Aber ich würde ihn nicht als Diktator bezeichnen.

Woran liegt es, dass die hiesige Medienberichterstattung zu Erdogan regelmäßig Bezeichnungen wie „Regime, Halb-Diktator“ und ähnliche verwendet?

Ich glaube das hat verschiedene Gründe. Ich weiß nicht, ob es nur an der mangelnden Objektivität liegt. Es hängt auch damit zusammen, dass in den Medien große Umwälzungen stattfinden und es immer weniger Experten, aber sehr viele Generalisten gibt. Daher werden derartige Begriffe viel öfter eingesetzt, weil die Dimension und die tatsächliche politikwissenschaftliche Bedeutung nicht jedem bewusst sind. Hier wird in eine allgemeine Rhetorik eingestimmt ohne die Thematik großartig zu reflektieren. Es gibt einen Diskurs, der sehr stark von Türkeibildern und einer ganz bestimmten Wahrnehmung des Landes geprägt ist. Das ist ein innerösterreichisches Problem, das mit dem politischen Diskurs in diesem Land zu tun hat.

Vermeintlich negative Entwicklungen, wie etwa, dass sich die Türkei unter Erdogan von einer liberalen Demokratie entfernt, treffen bei vielen auf ein Bild, das sie bereits in sich tragen. Auf der anderen Seite löst Erdogan durch sein politisches Handeln ganz bewusst bestimmte Reaktionen aus. Er braucht dieses Spiel „wir gegen den Westen und der Westen gegen uns“ und sieht sich zugleich gern als Fürsprecher einer imaginierten internationalen islamischen Community. Dafür ist dieser Gegenpart, der „Westen“, für seinen politischen Diskurs sehr wichtig.

Ist es überhaupt sinnvoll die Türkei mit einem stabilen Staat wie Österreich oder Frankreich zu vergleichen?

Entweder gibt es Demokratie, oder es gibt sie nicht. Wenn es um freie Meinungsäußerung, Respekt vor den Menschenrechten und die Einhaltung von demokratischen Grundwerten geht, dann sollte das System Demokratie universell verstanden werden. Da können keine Unterschiede gemacht werden. Aber wie das politische Spiel und das System ausgeprägt sind, das hat sich kulturell überall auf der Welt anders entwickelt. Die französische Demokratie etwa unterscheidet sich klar von der britischen, Großbritannien hat nicht einmal eine Verfassung. Das wäre in Österreich unvorstellbar. Hier gibt es jedoch das Konkordat mit dem Vatikan, das wiederum in Frankreich mit der laizistischen Vorstellung im Widerspruch steht. Es sind die Spielarten der Demokratie, die das politische System unterschiedlich gestalten. Es wäre unfair zu fordern, dass das österreichische System 1:1 in der Türkei umgesetzt werden soll. Das ist absurd. Und auch hierzulande gibt es Demokratiedefizite. Aber man kann kritisieren, wenn Grundwerte und Grundrechte wie Presse-und Versammlungsfreiheit eingeschränkt werden.

Warum gab es diese teils einseitige Türkei-Berichterstattung nicht auch schon vor 2002?

Die Türkei war davor eine Demokratie, die mit zahlreichen Einschränkungen funktioniert hat. Und leider ist sie es auch weiterhin. Das ist die Enttäuschung, die mitschwingt. Als die AKP-Regierung 2002 an die Macht kam, war es auch für viele Vertreter der Bildungseliten klar, dass es so nicht mehr weitergehen kann, sei es in Bezug auf die Kurdenfrage oder die Einschränkungen für Leute mit religiösen Lebensstilen. Das Verständnis, wie Moderne auszusehen hat, war ein sehr restriktives. Das passte nicht mehr zum Zeitgeist. Der Widerstand dagegen kam aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen. Die Reformen wurden dann bereits mit der Koalition vor 2002 eingeleitet und der Status eines EU-Beitrittskandidaten hat ebenfalls sehr viel Positives beigetragen. Die Alleinregierung der AKP wurde danach als große Erleichterung wahrgenommen, weil sie den Reformprozess enorm beschleunigt hat. Zudem kam die Zurückdrängung des Militärs, größere Medienfreiheit und der positive Umgang mit der kurdischen Sprache.

Aber all das hat nur in der ersten Legislaturperiode stattgefunden. Der türkische Staat ist weiterhin ein enorm zentralisierter, übermächtiger, bürokratischer Apparat. Um eine Demokratisierung weiter voranzutreiben, ist es notwendig, diese Bürokratie ein Stück weit abzubauen und demokratischer zu gestalten. Das könnte man mit Schritten, wie etwa, dass Provinzgouverneure gewählt werden und die Gemeinden mehr Entscheidungsfreiheiten erhalten, erreichen. Die AKP hatte zunehmend Angst gestürzt zu werden und das hat sich dann zu einer Paranoia entwickelt. Sie geht davon aus, dass ihr zahlreiche Personen in diesem Bürokratieapparat feindlich gesinnt sind. Auch wenn das zum Teil stimmt, wurde es ziemlich übertrieben. Anstatt einer Entflechtung kam es zu einer politischen Umfärbung der Beamten.

Das türkische Parlement
Im Juni 2015 wählt das türkische Volk ein neues Parlament. (Bild: Voice of America)

Trotzdem gewinnt die AKP seitdem jede Wahl und legte landesweit auf 49,8% zu. Was ist Ihre Prognose für die im Juni stattfindende Parlamentswahl?

Ich hüte mich vor Prognosen, weil hier sehr viele subjektive Wahrnehmungen einfließen und ich nicht die Möglichkeit habe, eigene Umfragen abzuhalten. Allerdings ist die AKP in den 13 Jahren deshalb so erfolgreich gewesen, weil die Wirtschaft gut gelaufen ist. Die Türkei hatte auch Glück, weil sie von der Krise in Europa und von der niedrigen Zinspolitik in Amerika profitierte. Dieser Aufschwung hat eben nicht nur mit den eigenen Fähigkeiten zu tun. Zudem machte der Bauboom den wirtschaftlichen Aufschwung stark sichtbar. Diese wirtschaftliche Entwicklung wird aber demnächst einbrechen und die AKP hat auch bereits den Zenit ihres Stimmenpotentials erreicht.

Das Land ist mittlerweile derart gespalten, dass es hier kaum mehr einen Spielraum für einen Zugewinn gibt. Entweder man ist für oder gegen die AKP, es gibt kaum mehr eine Grauzone. Und das ist kein gutes Zeichen für eine Demokratie. Nachdem der Reformprozess ins Stocken geriet, hat die AKP ihre Wählerschaft vor allem mit einer Freund-Feind-Rhetorik mobilisiert. Und die Opposition hat genau dasselbe getan. Die republikanische Volkspartei etwa wäre unter normalen Umständen niemals über 25% gekommen. Das läuft nun seit fast acht Jahren und hat einen tiefen Graben durch das Land gerissen, der nur sehr schwer überbrückbar ist. Es brodelt in der Bevölkerung.

Kommen wir zur Situation der Kurdinnen und Kurden im Lande. Wie bewerten Sie die aktuelle Situation?

Das türkische politische System hat lange Zeit verschiedene Gruppen ausgeschlossen. Darunter waren nicht nur religiöse Gruppen, sondern auch Kommunisten, Alewiten und Kurden. Die HDP (Anmerkung: Partei wird dem linken kurdischen Spektrum zugeordnet) betreibt eine Politik, die sehr auf Inklusion aus ist. Das ist nicht nur wichtig, um die notwendige 10%-Hürde bei den Wahlen zu schaffen, sondern auch, um sich als linke Alternative im Land zu positionieren und nicht nur als verlängerter Arm der PKK gesehen zu werden. Sie machen das sehr geschickt und sprechen viele Menschen an. Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs gibt es viele Missstände, wie etwa die Situation der Arbeiter, die bei diesen großen Bauprojekten oftmals nicht geschützt sind oder nur über Leihverträge angestellt sind.

Die HDP spricht genau diese Probleme an und nicht nur Thematiken, die die Kurden im Land betreffen. Somit rückt eine kurdische Partei in die Mitte des politischen Diskurses, die sich als Partei der Unterdrückten und Ausgegrenzten etabliert. So ist damals auch die AKP an die Macht gekommen. Der aktuelle Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und der PKK ist zudem eine echte Chance, um diesen langjährigen Konflikt endgültig zu beenden. Es hat sich sehr viel verbessert, aber es muss noch einiges geschehen. Muttersprachlicher Unterricht etwa ist für mich ein Menschenrecht und muss umgesetzt werden. Die AKP schwingt hier aber auch nationalistische Töne und daher bleibt abzuwarten, wie die Verhandlungen ausgehen.

Während Abdullah Öcalan versöhnliche Töne anschlägt, hat man das Gefühl, dass sich Teile der Bewegung immer mehr radikalisieren. Wie erklären Sie sich diesen Umstand?

Die PKK ist eine autoritäre Bewegung, die in sich nicht demokratisch ist und Abdullah Öcalan beansprucht die Führung uneingeschränkt für sich selbst. Jetzt sitzt er aber schon sehr lange im Gefängnis und ist somit zu einer Symbolfigur für die breiten Massen weit über die PKK hinaus geworden. Er ist ein Symbol für die kurdische Identität und den kurdischen Nationalismus. Wie stark seine Kontrolle über eine mittlerweile sehr breit aufgestellte Bewegung ist, ist schwierig einzuschätzen. Er ist in der Vergangenheit nicht gerade zimperlich mit den eigenen Leuten umgegangen, da gab es Exekutionen von Abtrünnigen. Zudem verselbstständigt sich die HDP immer mehr, nicht zuletzt durch die Popularität von Selahattin Demirtas. Derzeit hat Öcalan aber sicherlich noch die Fäden in der Hand und wenn er im Gefängnis ordentlich auf den Tisch haut, dann zählt es auch. Es bleibt aber fraglich, wie groß seine Rolle in Zukunft sein wird.

PKK-Demo in London
Eine Demo der PKK in London 2013.

Ist der Konflikt zwischen der Gülen-Bewegung und der AKP gelaufen oder wird die Auseinandersetzung kurz vor der Wahl erneut eskalieren?

Erdogan tourt aktuell quer durch das Land, um für die AKP Wahlkampf zu betreiben, auch wenn er das als unabhängiger Staatspräsident eigentlich nicht tun dürfte. Bei diesen Veranstaltungen thematisiert er diesen Konflikt weiterhin sehr stark. Einerseits ist es Teil des politischen Diskurses geworden, die AKP braucht ein Feindbild, gegen das sie mobilisiert. Bei den letzten Wahlen war es ja bereits die Gülen-Bewegung. Auf der anderen Seite sind Erdogan selbst und die Partei mittlerweile sehr stark von dieser Paranoia geprägt, wer zu dieser Bewegung gehört und wer nicht. Das bietet Raum für Intrigen und Grabenkämpfe.

Es ist sehr einfach jemanden zu desavouieren, indem man ihm eine Unterstützung der Gülen-Bewegung vorwirft. Sehr viele Polizisten sind etwa in den Ruhestand geschickt oder zwangsversetzt worden, ohne dass wirklich bekannt wurde, was die genauen Gründe dafür waren. Hier können Parallelen gezogen werden zu der Zeit nach dem 28. Februar 1997, wo es zu einem postmodernen Putsch kam. Das Militär griff nicht direkt ein, zog aber die Fäden hinter den Kulissen. Danach kam es zu einer „Säuberung“ von islamistischen Elementen in Staat und Wirtschaft. Genau das Gleiche sehen wir jetzt, weil es zu einem Kampf innerhalb des Islamismus kommt. Die Gülen-Bewegung wird als Staat im Staat bezeichnet, zugleich muss man aber sagen, dass die AKP auch dank dieser Bewegung erst so groß wurde. Sinngemäß also: Die Geister die ich rief, werde ich nicht mehr los.

Kommen wir zur Außenpolitik des Landes. Warum ließ sich die Türkei in keinen Krieg mit dem sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) hineinziehen?

Das hat mehrere Gründe, die aus türkischer Perspektive durchaus verständlich sind. Die Türkei hat wahrscheinlich am meisten Kontakt mit dem „Islamischen Staat“, weil es ja direkt an der Frontlinie liegt. Zudem gibt es bestimmte Interessen in Syrien, die die AKP verfolgt. Aus Sicht der türkischen Regierung ist der IS das geringere Übel im Vergleich zum Assad-Regime sowie ein Produkt dieser Diktatur. Das stimmt zum Teil. Die Entscheidungen und Aussagen von Erdogan und der türkischen Regierung haben aber zu einer weiteren Entfremdung zwischen der Türkei und einigen westlichen Staaten geführt. Ich fand die Diskussionen in Österreich und anderen europäischen Staaten aber auch ein wenig unfair, warum die Türkei denn nichts tue. Naja, warum haben die anderen Länder nichts getan?

Etwa die zahlreichen ausländischen Kämpfer, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass der IS so mächtig wurde. Die kommen aus europäischen Staaten, da tragen einfach alle eine gewisse Mitschuld. Warum soll die Türkei alleine in den Krieg ziehen, das wäre ja sehr praktisch gewesen für alle anderen. Ich könnte genauso vorhalten, dass Österreich Anfang der 90er nicht am Balkan eingegriffen hat. Das ist nicht so einfach, wenn direkt vor der Haustür ein Konflikt tobt, weil man natürlich Angst hat, dass es einen Spill-over-Effekt auf das eigene Land haben könnte. Zudem ist die Stimmung in der türkischen Öffentlichkeit absolut gegen jegliche Involvierung in Syrien.

Präsident Erdogan hält weiter an seiner Unterstützung für den gestürzten ägyptischen Präsidenten Mursi fest. Was verspricht er sich davon?

Das ist ein Teil seiner politischen Rhetorik, die er auch in der Innenpolitik verwendet. Mursi passt in den innenpolitischen Diskurs: Der Islamist, der demokratisch gewählt wurde und vom Militär abgesetzt wurde. Das passt wunderbar mit der Rhetorik und Theorie zusammen, wonach es Umsturzpläne gegen die AKP gibt. Auf der anderen Seite sieht man aber, dass die Türkei immer mehr von dieser strikten Ablehnung des Militärputschs abgeht, weil die politische Realität eine andere ist. Die Türkei ist ziemlich alleine geblieben in ihrem Konflikt mit Sisi. Es gibt bereits erste Anzeichen der Annäherung, auch wenn in der Öffentlichkeit eine andere Taktik angewendet wird. Der türkischen Regierung ist eine Fehlkalkulation unterlaufen, weil sie dachte, dass sie der große demokratische Bruder für die islamistischen Bewegungen in der arabischen Welt sein kann und somit der Einfluss der Türkei ausgeweitet werden kann. Nur sind die anderen islamistischen Gruppen entweder gestürzt worden, oder haben, wie etwa die Ennahda in Tunesien, die Wahlen verloren.

Abschließend, beim wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Mich hätte die Generation von Thatcher und Kohl interessiert, weil sie damals in Europa sehr viel weitergebracht haben. Thatcher ist vielleicht ein schlechtes Beispiel für Europa (lacht), aber das war eine Zeit, wo Politiker noch relativ viel verändert haben. Das ist heute kaum mehr möglich. Retrospektiv würde ich gerne erfahren, ob sie mutiger waren oder einfach die Zeit eine andere war.

Vielen Dank für das Gespräch!

Peter Pilz: Österreich zeigt Tendenzen eines Polizeistaats

Er sitzt seit 1986 fast durchgehend im österreichischen Parlament und ist so etwas wie der Aufdecker der Nation. Der Grün-Abgeordnete Peter Pilz lässt sich nicht den Mund verbieten und eckt dort an, wo andere schon längst versuchen, etwas unter den Teppich zu kehren. Im Interview spricht er über seine rebellische Kindheit, die sexuelle Befreiung der Steiermark, den Sinn von Untersuchungsausschüssen, Stasi-Methoden und eine düstere Zukunft.

Gab es einen Moment in Ihrem Leben, wo Ihnen klar wurde, dass Sie in die Politik gehen wollen?

Als ich ungefähr 20 Jahre alt war, habe ich mir überlegt, was ich für den Rest meines Lebens machen möchte. Mir war damals nicht klar, welchen Beruf ich einmal haben werde, aber eines war sicher: Ich wollte keinen Chef haben. Ich wollte völlig autonom sein und über mich selbst und das, was ich tue, bestimmen. Ich weiß, dass ich damit viele grüne Parteivorstände nicht besonders glücklich gemacht habe, aber es ist mir weitgehend gelungen.

Waren Sie eigentlich schon als Kind bzw. Jugendlicher ein misstrauischer Mensch, der lieber zwei Mal nachfragte, wenn ihm etwas komisch vorkam?

Misstrauen ist der falsche Ausdruck, weil ich das Privileg habe in einer wunderbaren Familie zu leben, die mir sehr viel Vertrauen und Sicherheit geschenkt hat. Ich war eher ein streitlustiges Kind und diskutierte gerne. In der Schule hat sich das dann fortgesetzt. Das hat aber auch damit zu tun, dass ich in einem klassisch linkssozialistischen Elternhaus aufgewachsen bin. Damit war ich spätestens ab der Mittelschule in Auseinandersetzungen mit einem Großteil des Lehrpersonals verwickelt. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, welche Leute damals unterrichtet haben. Unser Klassenvorstand war ein glühender Nationalsozialist und unser Zeichenprofessor hat erklärt, dass die schönste Landschaft der Welt das Nürnberger Parteitagsgelände wäre. Ich bin dann aufgestanden und habe ihn aufgefordert, diese Aussage zurückzuziehen, andernfalls würde ich zum Direktor gehen. Da war ich 14 oder 15 Jahre alt.

Peter Pilz: Österreich zeigt Tendenzen eines Polizeistaats
Bild: Christoph Hopf

Wie hat er reagiert?

Ich bin zum Direktor gegangen und habe verlangt, dass er sich entschuldigt. Die wirklich große Entschuldigung kam aber erst später bei einer weiteren Entgleisung. Es gab andauernd Entgleisungen. Schulen waren damals anders. Da gab es zum einen die letzte große Nazigeneration, aber zum anderen auch eine gute Mischung aus sehr gescheiten, angenehmen Lehrern und wenigen Lehrerinnen. Der Zeichenprofessor war ein grandioser Zeichner, ich habe bis heute noch einige Blätter von ihm, weil er unter anderem unsere Huam – unser Bauernhaus – gezeichnet hat. Ich glaube auch nicht, dass er tief in seinem Herzen ein Nazi war. Er hat wohl im 3. Reich den Sozialisten gespielt und in im demokratischen Österreich den Nazi. Unser Klassenvorstand hingegen war wirklich ein überzeugter Nazi. Mit 15 oder 16 habe ich dann einen Streik organisiert, veranlasst durch meinen damals schon sagenhaften Heldenmut. Aber ich muss zugeben, dass es für mich leichter war so etwas auf die Beine zu stellen, weil mein Vater Vizebürgermeister und Betriebsratsobmann in Kapfenberg war (lacht). Da war im Hintergrund schon ein gewisses familiäres Drohpotential vorhanden, das von den Professoren durchaus ernst genommen wurde. Da ist man leichter mutig.

Sind Sie damals alleine aufgestanden oder haben sich viele aus Ihrer Klasse Ihrem Widerstand angeschlossen?

Die Mitschüler und die zwei Mitschülerinnen sind mitgegangen, das war damals selbstverständlich. Auch wenn sie nicht besonders aktiv waren, haben sie mich unterstützt. Damit war es nicht nur meine Geschichte. Wir waren jung, es war 1968 und wir hatten alle die Nase voll. Es gab neben den Wiederbetätigungen aber ein noch viel größeres Problem: In der großen Pause wurden wir von den Frauen getrennt. Die Schülerinnen durften im ersten Stock eine Viertelstunde spazieren gehen und wir im Erdgeschoss und im zweiten Stock. Meine zwei Mitschülerinnen mussten in der Pause raufgehen, sodass es zu keiner Mischung der Geschlechter kommt. Daraufhin habe ich mit ein paar Freunden wieder einen Streik der gesamten Oberstufe organisiert und wir haben gewonnen. Ich glaube, das war der Beginn der sexuellen Befreiung der Steiermark (lacht).

Aber im Ernst, das war eine Zeit der Emanzipation. Meine Eltern etwa waren große Freunde Israels und haben uns als Kinder blau-weiße Kappen mit einer israelischen Landkarte aufgesetzt. Diese große Sympathie war nicht nur als Widerstand gegen den noch immer verbreiteten Nationalsozialismus zu verstehen. Sie glaubten auch daran, dass die israelische Gewerkschaftsbewegung „Histadrut“ den Sozialismus verwirklicht. Dann wurde ich aber klarerweise als familieninterne Opposition ein glühender Anhänger der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO. Man kann sich vorstellen, wie unsere gemeinsamen Mittagessen abgelaufen sind. Bei der Suppe setzte ich zu einer Verherrlichung Arafats an und meine Eltern haben dementsprechend geantwortet (lacht). Da wurde ordentlich gestritten.

Peter Pilz: Österreich zeigt Tendenzen eines Polizeistaats
Bild: Christoph Hopf

War damals nicht bekannt, dass die Histadrut mehr als nur eine Gewerkschaft war? Arabische Arbeiterinnen und Arbeiter etwa wurden nicht aufgenommen.

Das war zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Als davon mehr und mehr an die Öffentlichkeit gelang, haben meine Eltern ihre Positionen geändert. Sie wurden PLO-freundlicher und nahmen eine immer kritischere Haltung zu den Entwicklungen in Israel ein. Die gesamte Debatte rund um Palästina und Israel kam erst viel später voran, davor war sie aus verständlichen Gründen überlagert von der österreichischen und deutschen Schuld gegenüber den Juden und Jüdinnen.

Heute gibt es immer weniger Zeitzeugen. Befürchten Sie, dass die jungen Menschen in 10-20 Jahren diese Ereignisse nicht mehr so bewusst wahrnehmen werden wie die jetzigen Generationen?

Ich glaube, dass wir schon sehr bald wieder daran erinnert werden. Wir leiden bereits jetzt an einem zu kurzen Gedächtnis. Wir haben eine politische Klasse, die sehr stark an ihre Vorgänger zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929 erinnert. Den größten Teil der Krise, und damit meine ich nicht nur die Wirtschaft, haben wir wahrscheinlich erst vor uns. Es war kein Zufall, dass es damals nur zwei Antworten auf eine ebenso große Herausforderung wie heute gab: die Antwort von Roosevelt und die von Hitler. Heute geht es nicht darum zu diskutieren, wer der neue europäische Hitler ist, so detailliert wiederholt sich die Geschichte nicht.

Aber die Europäische Union, deren Entwicklung wir seit langem unterstützen und begleiten, steht auf so dünnem Eis, dass ich bezweifle, dass sie noch eine weitere große Belastung aushält. Und jetzt reisst der Bruch zwischen Norden und Süden auf. Gleichzeitig haben wir dieses falsche Bild von „Charlie Hebdo“ und damit von uns. Diese falsche Vorstellung, wonach das aufgeklärte Europa auschließlich einem reaktionären und fanatischen Islam gegenübersteht. Ich glaube, dass wir als der linke Teil des aufgeklärten, liberalen Europas darüber reden sollten, wie unser Europa zwischen zwei Blöcke geraten sind. Wir stehen zwischen den deklassierten Inländern, die immer stärker rechtsextremen und nationalistischen Führern nachlaufen und den deklassierten Einwanderern, die ihr Heil im Islam suchen. Wenn wir nun keine Lösung für diese hoffnungslosen, verängstigten und wütenden Menschen finden, dann entsteht für uns alle ein großes Problem. Das alte, aufgeklärte Europa gerät zwischen zwei Blöcke. Aber nur gegen einen wird mobilisiert. Aber es ist doch so: Der islamistische Terror kann Europa verletzen, aber nur der Rechtsextremismus kann Europa zerstören. Jetzt haben wir zunehmend nationalistische Übergewichte in Moskau und Budapest und wir wissen letztlich nicht, was in Frankreich, Dänemark und Österreich passieren wird. Putin, Orban, Strache, Le Pen – das sind die Bomben am europäischen Körper.

Peter Pilz: Österreich zeigt Tendenzen eines Polizeistaats

Die hoffnungsvolleren Entwicklungen finden hauptsächlich am südlichen Rand Europas statt. Und nicht in den Kernländern. Jederzeit kann wieder etwas brechen, in der Folge von „Grexit“ mit einer möglichen Kettenreaktion oder dem Zerplatzen der Shanghaier Spekulationsblase. Wir sind derzeit der instabilste und zerbrechlichste Kontinent. Der politischen Kaste muss endlich bewusst werden, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Ich sitze derweil im Parlament und wundere mich über Europa-Diskussionen, wo gepredigt wird, dass wir TTIP und eine europäische Armee brauchen – und das als Antwort auf den sozialen Grabenbruch quer durch Europa. Das ist doch verrückt! Die Basis unseres Friedens ist der europäische Sozial- und Wohlfahrtsstaat. Bei Massenarmut und in einer schweren Krise ist dieser Kontinent immer kriegsgefährdet. Und dazu kommt zum ersten Mal seit 1945 die Frage, wie lange die deutsch-französische Achse noch belastbar ist. Wenn auch die bricht, ist alles möglich.

456 Anti-PEGIDA DemonstrantInnen, darunter auch Journalistinnen und Journalisten, droht eine Anklage wegen „Verhinderung oder Störung einer Versammlung“. Gegen das linke NoWKR-Bündnis läuft ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung. Wohin steuert Österreich?

Und es wird noch verrückter. Innenministerin Mikl-Leitner behauptet, wir benötigen mehr Instrumente und polizeiliche Rechte zur Bekämpfung des Terrorismus. Wenn wir alles zusammenfassen, was derzeit vom Innenministerium vorgeschlagen wird, dann sehen wir eine immense Ausweitung der Überwachungsmöglichkeiten und eine klare Entwicklung in Richtung Polizeistaat. Aber beim genaueren Hinsehen wird klar, dass die neuen Polizeivollmachten hervorragend gegen antifaschistische Demonstranten und Tierschützer, aber in keiner Weise gegen Austro-Dschihadisten funktionieren. Sie sind einfach nicht einsetzbar, weil gerade bei dem Einzeltäter die Gefährdungsmerkmale vollkommen fehlen. In Wirklichkeit entwickeln die Innenministerin, die ÖVP und damit die gesamte Bundesregierung ein Instrumentarium zur Verfolgung einer radikaleren politischen Opposition. Und da fällt ein weiterer Punkt auf: Unter den 456 vermeintlich Angeklagten sind zehn Journalistinnen und Journalisten. Die Innenministerin geht ja davon aus, dass gerade bereits angezeigte Personen diejenigen sind, die weiter präventiv überwacht werden müssen. Somit könnten in naher Zukunft anstatt von Austro-Dschihadisten Journalisten überwacht werden. Und das geschieht dann ganz legal. Das ist dann der Überwachungs- und Spitzelstaat.

Zum Glück gibt es noch grundlegende Unterschiede zur DDR, wie den Rechtsstaat und ein gewähltes Parlament. Damit können wir uns zur Wehr setzen. Die Polizei, speziell die Staatspolizei, nimmt aber immer mehr Züge einer Stasi an. Alles überwachen und bespitzeln und alles mit V-Leuten unterwandern, das sind Stasi-Konzepte. Bei der Homeland Security der USA und dem Spitzel-Staat der Frau Mikl-Leitner geht es darum, mit modernster Technik ein abweichendes Verhalten und damit unerwünschte Entwicklungen messen und überwachen zu können. Das zeigt die ungeheure Angst der herrschenden politischen Kaste vor dem, was kommen könnte. Nach wie vor glauben sie, dass sie das mit der Polizei verhindern können.

Peter Pilz: Österreich zeigt Tendenzen eines Polizeistaats
Bild: Christoph Hopf

Kommen wir zum Stichwort U-Ausschuss: Glauben Sie daran, dass diese Untersuchungen realpolitische Auswirkungen haben? Die Leute, die vorher gelogen haben, werden wohl auch unter Eid weiterlügen…

Da ist uns doch schon vieles hervorragend gelungen, wie etwa der Korruptionsuntersuchungsausschuss. Ich genieße das Privileg einer täglichen Meinungsumfrage, weil mich ständig Leute auf der Straße auf meine Arbeit ansprechen. Wie damals, als wir mit den Untersuchungen begonnen haben und ich gefragt wurde, warum wir das machen, weil mit Sicherheit nichts dabei herausschauen wird und dass eh alle Politiker Gauner sind. Ein halbes Jahr später haben dieselben Leute gesagt, dass es unglaublich sei, was da alles publik wurde, aber es würde eh keine Folgen haben. Und das eh alle Politiker bis auf die Grünen Gauner seien. Diese Erkenntnis  war zumindest für mich persönlich schon ein Fortschritt. Den nächsten Schritt muss die Strafjustiz machen. Wir werden sehen, ob es zu Anklagen und Verurteilungen kommt.

Da war der Fall Strasser sehr wichtig. Entscheidend aber wird der große Grasser-Prozess sein. Da besteht die Chance, dass die Menschen sehen, dass den Herrschaften auch Konsequenzen drohen. Und dann gibt es noch den Punkt „Geld zurück“. Überall dort, wo diese Republik bestohlen und geplündert wird, müssen wir uns das Geld zurückholen. Inzwischen sind immer mehr Menschen davon überzeugt, dass wir das schaffen können. Diese Erfolgsgeschichte wird zwar kurzzeitig durch den Streit rund um die Hypo-Untersuchung getrübt werden, aber weder der unsägliche Herr Krainer von der SPÖ, noch der Finanzminister mit seinen geschwärzten Akten sind für uns eine wirkliche Herausforderung. Das werden wir überwinden. Der Hypo-Ausschuss wird eine Erfolgsgeschichte, davon bin ich überzeugt.

Die politische Grüne ist so stark wie nie zuvor. Was wären die ersten Gesetze, auf die Sie drängen würden, wenn es die Grünen in die Bundesregierung schaffen?

Die wirklich große Herausforderung ist die radikale Umverteilung von Einkommen, Arbeit und Lebenschancen in Österreich. Die großen Fragen der nächsten zehn Jahre drehen sich im Kern um die Wirtschaft. Das klingt ungrün, aber sie sind entscheidend für die Zukunft der Republik, Europas und für die der Grünen. Die Frage ist, ob wir die politische Schlüsselpartei Österreichs werden wollen oder ob wir das bleiben, was wir sind – nämlich der beste und wichtigste politische „Beiwagen“, den es geben kann. Ich weiß nicht ob wir das schaffen oder ob das andere probieren müssen. Um etwas zu erreichen – und das geht über Österreich und über die Grünen hinaus – müssen wir aus den politischen Dachböden ausziehen und im Erdgeschoß neue Mehrheiten suchen, damit wir die rechtsextremen Strömungen aufhalten.

Peter Pilz: Österreich zeigt Tendenzen eines Polizeistaats
Bild: Christoph Hopf

Das grüne Projekt ist noch nicht so weit, dass es die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger überzeugt. Manchmal sind wir auch einfach zu wenig entschlossen. Bei uns Grünen gibt es manchmal ein Missverständnis in Bezug auf Türen. Der grüne Weg führt nicht durch jede Tür, die sich gerade öffnet. Manchmal geht die falsche Tür auf und es ist richtig, direkt daneben mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Das haben wir bereits einige Male erfolgreich gemacht und an dem wird sich auch nichts ändern. Der größte Fehler wäre, durch die falsche Tür zu gehen, obwohl man ein wunderbares grünes Loch durch die Wand daneben machen könnte.

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Es gibt eine einzige Person, die mich in der österreichischen Politik immer schon fasziniert hat. Und das war Bruno Kreisky, auch wenn das nicht besonders originell ist. Er interessiert mich aber nicht, weil er so lange Kanzler war und die politische Wende geschafft hat, sondern weil es ihm gelungen ist, eine linksliberale Politik in großen Bereichen der Bevölkerung sympathisch, attraktiv und somit mehrheitsfähig zu machen. Er war der letzte österreichische Politiker, der in der Lage war eine Mehrheit für eine offene, liberale und solidarische Gesellschaft zu bilden. Und das finde ich faszinierend, weil die Leute vergessen haben, dass so etwas in Österreich möglich ist. Nicht die Menschen waren damals anders, sondern die Politiker und Politikerinnen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Bischof Bünker: Freiheit ohne Verantwortung führt zur Zügellosigkeit

Seit vielen Jahren leitet er die Geschicke der evangelischen Kirche in Österreich. Bischof Bünker nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um Ungerechtigkeit und fragwürdige Entwicklungen in der österreichischen Gesellschaft geht. Im Gespräch spricht er darüber, ob er das Lied „Losing My Religion“ auf seinem Schlagzeug spielt, über die Herausforderung Glaube, viel Historisches und von seinem ganz persönlichen Missionarsverständnis.

Laut Webseite der Evangelischen Kirche spielen Sie Schlagzeug und hören Bach, Schubert und Mozart. Hören Sie auch moderne Musik?

(lacht). Ja und zwar alle möglichen Richtungen. Ich höre sehr gerne Rockmusik, wie etwa die Rolling Stones. Aber ich verehre auch andere Gruppen, die natürlich sehr viel mehr als ich am Schlagzeug spielen können. Ich spiele auch mit vier Freunden in einer Band namens „Kreuzweh“, wir hatten erst jüngst am 25. April im Albert Schweizer Haus ein  Konzert. Da spielten wir alles Mögliche von R.E.M. über Dire Straits bis hin zu Van Morrison. Ich höre auch sehr gerne zeitgenössische Musik. Etwa am Karfreitag veranstalten wir jedes Jahr einen Abend der Meditation und Besinnung. Wir setzen hier sehr viel zeitgenössische Musik ein, teilweise auch mit Uraufführungen in Österreich. In diesem Jahr hatten wir Studierende und Lehrende der Musikuniversität zu Besuch, alles Schlagwerker. Das war großartig.

Spielen Sie auch den Song „Losing My Religion“?

Unser letztes Konzert haben wir sogar damit begonnen. Rockmusik ist Rockmusik und immer ein Ausdruck der Zeit. Ich habe da keine Berührungsängste. Der Verlust von Religion ist ja für viele Menschen eine Tatsache. Entscheidend ist, wie wir damit umgehen.

Wie viel Zeit investieren Sie in Ihre musikalische Leidenschaft?

Ich habe wöchentlich eine Schlagzeugstunde und übe daneben zu Hause. Es gibt heuer auch ein sehr anspruchsvolles Projekt, das am 18. Juni stattfindet. Wir treten gemeinsam mit dem Jüdischen Chor im Wiener Volkstheater auf. Während der Oberrabbiner singt, spielt ein ganz prominenter Vertreter der katholischen Kirche, Abtprimas Notker Wolf von den Benediktinern, die Querflöte. Also eine christlich-jüdische Shalom-Band und das ist viel anspruchsvoller, weil es in Richtung Jazz geht. Da muss ich noch einiges üben.

Bischof Bünker: Freiheit ohne Verantwortung führt zur Zügellosigkeit (Bild: Christoph Hopf)
Bild: Christoph Hopf

Sie gehen auch gerne ins Kino. Was war der letzte Film, den Sie gesehen haben?

Das ist schon eine Weile her, leider fehlt mir die Zeit. Einen Film, den ich unbedingt sehen möchte, ist „Die Superwelt“ von Karl Markovic, den schätze ich sehr. Ich fand bereits seinen ersten Film sehr gut. Der neue Film beschäftigt sich ja auch mit religiösen Themen. Das letzte Mal im Kino war eher ein Vergnügen – „Das ewige Leben“ von Wolf Haas und mit Josef Hader.

Die Unterhaltungsindustrie vermittelt heutzutage zahlreiche moralische Werte. Finden Sie, dass sich diese in den vergangenen Jahrzehnten verändert haben?

Das ist natürlich richtig. Ich kann mich erinnern, als der US-amerikanische Kriminalautor Eric Ambler einst meinte, dass Kriminalautoren und Kriminalautorinnen die letzten Moralisten seien. Die wissen noch, was gut und was böse ist. Und das fand ich immer sehr bemerkenswert. In Bezug auf die Veränderungen denke ich, dass diese sehr weit auseinander gehen. Die europäischen Gesellschaften sind nicht nur in sich selbst pluralistisch, sondern auch in ihren Werthaltungen. Es gibt verschiedene Milieus, die sich unterschiedlich definieren, wie der Hedonist und die Hedonistin oder die Traditionalisten. Und das spüren wir in der Gesamtgesellschaft. Umso wichtiger ist mir, dass wir eine Basis haben, so etwas wie eine Hausordnung, auf die wir uns alle verständigen können.

Haben Sie das Gefühl, dass die Werte der evangelischen Kirche bei den jungen Menschen ankommen?

Ich denke, es kommt schon an. Der evangelische Glaube mutet den Menschen ja einiges zu, sie haben ein hohes Freiheitspathos und schätzen die individuelle Persönlichkeit. Die Gewissensentscheidung ist sehr wichtig, die Urszene ist immer Martin Luther vor dem Reichstag in Worms mit den Worten: „Hier stehe ich und ich kann nicht anders.“ Das hat sich stark eingeprägt. Zugleich bedeutet Freiheit aber nicht Beliebigkeit und „anything goes“, jeder und jede tut was er oder sie will. Sondern sie ist nur dann realisiert, wenn sie in Verantwortung wahrgenommen wird. Freiheit ohne Verantwortung führt zur Zügellosigkeit, das sah man etwa in der Finanzkrise. Wie die Verantwortung gestaltet wird, das ist immer eine Frage, die nach sachlichen und ethischen Kriterien zu entscheiden ist. Das ist für die Religionen sicher nicht immer leicht, da wir davon ausgehen, dass unsere Werte und Regeln einen göttlichen Ursprung haben. Aber auch das müssen wir erklären und verständlich machen. Wir sehen das bei ethischen Fragen wie Euthanasie, Sterbehilfe und der Fortpflanzungsmedizin.

Bischof Bünker: Freiheit ohne Verantwortung führt zur Zügellosigkeit (Bild: Christoph Hopf)
Bild: Christoph Hopf

Macht die Evangelische Kirche hier genug?

Naja, genug wird es nie sein. Die Mitglieder der evangelischen Kirche sind wie die österreichische Bevölkerung, die Kirche ist ja keine Gesinnungsgemeinschaft oder eine Partei. Trotzdem hat sie in einigen Fragen sehr klar Position bezogen, wie etwa in der Asyl- und Flüchtlingsdebatte. Oder bei der Armutsbekämpfung und dem gegenseitigen Respekt zwischen den Religionen. Hier treten wir glaubwürdig für unsere Werte und Vorstellungen ein, davon bin ich überzeugt. Da spielt die professionelle und qualitätsvolle Arbeit in der Diakonie eine ganz besondere Rolle.

Haben Sie das Gefühl, dass Ihnen die Politik zuhört? Oder geht das bei einem Ohr hinein und beim anderen hinaus?

Ich möchte jetzt nicht den türkischen Präsidenten zitieren (lacht). Ich denke schon, dass die Politik zuhört, da die einzelnen Politikerinnen und Politiker ja immer wieder selbst vor den vorhin erwähnten Fragen stehen. Die politische Gestaltungsfrage ist heute hochkomplex und schwierig, das muss man sich schon eingestehen. Man kann sich hier keine Wunder erwarten. Max Weber meinte einst, Politik sei wie das Bohren von harten Brettern und das erleben auch heute alle, die in der Politik engagiert sind. Ich habe da großen Respekt vor allen, die sich dieser Aufgabe widmen. Die Gesprächsbasis zwischen den Religionen, den zivilgesellschaftlichen Einrichtungen und der Politik ist in Österreich gut, aber sie müsste noch mehr verdeutlicht werden. Die evangelischen Kirchen haben gemeinsam mit anderen Kirchen eine Zeit lang vorgeschlagen, dass es so etwas wie eine Sozialverträglichkeitsprüfung bei Gesetzesvorschlägen geben sollte. Das hätte etwa bei der Steuerreform ganz gut getan.

Warum fällt es den Menschen heute so schwer über Gott zu sprechen?

Ich glaube das ist etwas typisch Österreichisches. Das ist in den USA sicherlich nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Oder auch in anderen Teilen der Welt. Europa steht in einer Tradition, wonach in der Öffentlichkeit eine gewisse Distanz zu religiösen Themen vorherrscht. Wenn jemand wirklich glaubt, dann verbirgt er das eher. Man sollte nicht vergessen, dass es Zeiten gab, wo man für den eigenen Glauben mit sehr üblen Konsequenzen rechnen musste. Die österreichischen Evangelischen wissen das aus ihrer eigenen Geschichte, sechs Generationen lang lebten sie einen geheimen und unterdrückten Protestantismus. Das betrifft auch Jüdinnen und Juden, die nicht gern mit der Kippa auf die Straße gehen, aber auch Kopftuchträgerinnen. Ich fürchte, dass diese Grundeinstellung, wonach Religion etwas Problematisches und Provozierendes sei, in Österreich besonders ausgeprägt ist.

Bischof Bünker: Freiheit ohne Verantwortung führt zur Zügellosigkeit (Bild: Christoph Hopf)
Bild: Christoph Hopf

Gab es hier historisch einen Bruch? Österreich ist ja doch sein sehr „katholisches“ Land.

Ich würde sagen, dass es eine weitere Ausdifferenzierung der modernen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft ist. Dieses Lagerdenken, wonach man in die Kirche geht, eine gewisse Partei wählt und nur eine Zeitung liest, ist endgültig überwunden. Zweitens hat es eine kulturelle Wende durch die 1960er und 1970er gegeben. Von der Religion als Schicksal zur Religion als Wahl hat es einst ein Soziologe auf den Punkt gebracht. Das trifft es ganz gut. Die Menschen sind religiös, aber in ihrer Form sehr viel freier als sie es früher waren. Umso mehr ist es erfreulich, dass sich so viele um eine bewährte Form der Religionsausübung bemühen.

Gibt es hier einen Unterschied zwischen dem Glauben an Gott und dem Praktizieren einer Religion?

Ja. Es gibt ja nicht nur einen gesellschaftlichen Druck auf Privatisierung von Religion, sondern auch ein Misstrauen gegenüber den Institutionen. Das ist heute sehr stark in der Gesellschaft verankert.

Was ist Ihr ganz persönliches Missionarsverständnis?

Mission heißt zeigen, was man liebt. Das stammt nicht von mir, aber das ist sehr überzeugend. Ein anderes Verständnis wäre, dass du nicht über Gott reden sollst, wenn du nicht gefragt wirst, sondern so leben sollst, dass du gefragt wirst. Das finde ich sehr einleuchtend. Jede Kirche und Religionsgemeinschaft, insbesondere das Christentum und der Islam, sind missionarisch. Sie können auch nicht anders. Aus der persönlichen Glaubensüberzeugung heraus ist man ja davon überzeugt, dass das mit dem großen Ganzen zu tun hat. Man muss sich daher auch in die politischen Fragen, die das Zusammenleben betreffen, einmischen. Die Zahl der Menschen, die ohne Religion leben – ob bewusst oder unbewusst – nimmt ja zu. Daher müssen sich Religionen verständlich machen und einladend und transparent sein. Dafür gibt es in Österreich auch gute Voraussetzungen.

Stichwort Islam: Die Evangelische Kirche hat das neue Islamgesetz scharf kritisiert. Wie erklären Sie sich, dass dieses so schnell verabschiedet wurde?

Ich kann da nur mutmaßen, ich kann nichts über die beteiligten Personen sagen. Auf der einen Seite war es erstaunlich, dass da im Jahr 2012, also 100 Jahre nach dem alten Habsburgergesetz, nichts gekommen ist. Und jetzt ging es relativ schnell, nicht zuletzt durch das öffentlich Werden des IS-Terrors im vergangenen Sommer. Das war sicherlich ein „Beschleuniger“. Und das merkt man dem gesamten Gesetzwerdungsprozess und dem Gesetz selbst auch an. Es beinhaltet ja einzelne Punkte, die eben aus diesem Motiv heraus dem Entwurf beigefügt wurden. Und das hat die Evangelische Kirche auch kritisiert. Diese haben nichts mit der Religion zu tun. Österreich gilt ja als Musterland, aber man kann alles mit einem Fragezeichen versehen. Die Aleviten etwa sagen, dass dieses Land das einzige ist, wo sie anerkannt sind. Auch für uns Evangelische war es sehr wichtig, dass wir nach der Zeit der Unterdrückung und Illegalität im Jahre 1781 erstmals toleriert wurden. Ab den 1850er Jahren war es möglich, dass man etwas sichtbarer evangelisch war, sprich Kirchen und Kirchtürme bauen konnte. Die volle Gleichberechtigung haben wir erst 1961 durch das Protestantengesetz erhalten.

Bischof Bünker: Freiheit ohne Verantwortung führt zur Zügellosigkeit (Bild: Christoph Hopf)
Bild: Christoph Hopf

Sehen Sie da Parallelen zur Islam-Debatte, wie etwa dass das Evangelische nicht zu Österreich gehöre?

Das ist sehr interessant, dass Sie das ansprechen. Es war auffällig, dass im Jahre 1981, also 200 Jahre nach dem Toleranzpatent, der damalige Bundespräsident Rudolf Kirchschläger bei einer Einweihung einer evangelischen Kirche in Kärnten sagte, dass die Evangelischen ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil Österreichs seien. Also quasi, der Protestantismus gehört zu Österreich. 1981, das muss man sich einmal vorstellen! Das war das erste Mal, dass ein derart hoher Vertreter der Republik eine solche Aussage tätigte. Man hat ja sehr lange gedacht, dass es sich dabei nur um deutsche ZuwanderInnen oder KonvertitInnen handelt. Und beides gibt es auch. Aber dass der Protestantismus auch eine angestammte Form ist, das Christentum zu leben, das hat man in Österreich lange nicht wahrhaben wollen.

Bleiben wir bei der Geschichte der Evangelischen Kirche: Wie stark schätzen Sie heutige Strömungen ein, die zurück zu einer Einheitskirche wollen? Das Ziel der Reformation war ja nicht die Spaltung des Christentums.

Mit der Spaltung der Christenheit wird man sich nie abfinden. Das ist das Anliegen der Ökumene, die Kirchen müssen zusammenwachsen. In Österreich geschieht das in einer doch sehr guten Weise. Aber alle sind sich einig, dass wir keine Einheitskirche anstreben. Diese wird es wohl nicht geben. Was es aber geben kann, ist eine stärkere Gemeinschaft. Die Unterschiede sind eine Bereicherung und sollten nicht als etwas Trennendes gesehen werden. Wir sagen gerne, dass es eine Einheit in versöhnter Verschiedenheit sein sollte. Die Fusion führt letztlich wieder zu neuen Spaltungen und das kann ja letztlich nicht das Ziel sein.

Auf einer Skala von 1 bis 100, wie weit ist man da?

Im praktischen Leben sind wir da schon sehr weit. Es ist kein Problem in einer konfessionsverbindenden Familie zu leben oder am Gottesdienst des Anderen teilzunehmen. Das war bei unseren Großeltern noch streng verboten. Heute lesen wir gemeinsam aus unserer Heiligen Schrift. Da ist in den letzten 50 Jahren sehr viel geschehen. Auch die gegenseitigen Verurteilungen sind revidiert worden, man schätzt sich gegenseitig und sieht auch, was man vom Anderen übernehmen und lernen kann. Auf einer Skala von 1 bis 100, würde ich schon 70/80 sagen. Ich bin da nicht pessimistisch und denke, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Insbesondere, wenn man sich den neuen Papst ansieht und das, was man aus Rom hört. Es wird aber sicher nicht so schnell gehen.

Noch etwas Historisches: Wie erklären Sie sich den Wandel von Martin Luther, von einem Toleranzprediger hin zu jemandem, der die Verfolgung der Juden und Jüdinnen unterstützte?

Der Unterschied zwischen dem jungen und alten Martin Luther ist insbesondere in dieser Frage sehr eklatant. Aber nicht nur in dieser. Es gibt auch andere Fragen, wo der alte und kranke Mann sich plötzlich sehr hart äußerte. In Bezug auf das Judentum, ging er von Anfang an davon aus, dass bei einem wieder gereinigten Evangelium die Juden und Jüdinnen Jesus als den Messias annehmen. Und das war natürlich eine Illusion, das würden wir heute gar nicht mehr erwarten. Davon haben wir uns verabschiedet. Die Juden sind Gottes Volk und ihr „Nein“ zur Messianität von Jesus Christus ist für uns auch wichtig. Es erinnert uns immer daran, was noch fehlt vom versprochenen Reich des Messias. Das ist ja eine offene Frage. Die evangelischen Kirchen in Österreich haben sich 1998 sehr klar von diesen späten Luther-Schriften distanziert. Es hieß sogar, wir verwerfen diese Schriften. Luther ist für uns kein Heiliger, er hat auch vieles gesagt, wie etwa während den Bauernkriegen, das wir heute nicht akzeptieren können. Es wird zum Thema „Luther und die Juden“ demnächst eine Tagung in Salzburg geben. Das gehört offen ausgesprochen und man muss auch zu dieser Schuldgeschichte stehen.

Bischof Bünker: Freiheit ohne Verantwortung führt zur Zügellosigkeit (Bild: Christoph Hopf)
Bild: Christoph Hopf

Was ist für Sie persönlich das dunkelste Kapitel der evangelischen Kirchengeschichte in Österreich?

Das ist der Nationalsozialismus. Die Evangelischen in Österreich waren sehr anfällig dafür, sich etwas Positives vom Anschluss an Deutschland zu erwarten. Sie haben im 19. Jahrhundert sehr stark das Evangelisch-sein und Deutsch-sein miteinander identifiziert. Die Evangelischen haben 1938 in einer für mich bis heute erschreckenden Art und Weise den Anschluss begrüßt. Das halte ich für einen schweren politischen aber auch theologischen Irrtum. Man hat vergessen auf das Judentum, also unsere Wurzeln, aber auch auf die Schwachen und die, die an den Rand gedrängt werden. Und plötzlich sehnt sich die Kirche nach Einfluss und Macht. Und das halte ich immer für gefährlich für Kirchen.

Sind Sie mit der Aufarbeitung dieser Zeit zufrieden?

Ich glaube, dass wir hier keinen Schlussstrich ziehen können. Es gibt sicherlich Bereiche, wie etwa bei den Stichwörtern Euthanasie und Arisierung, wo eine gute Aufarbeitung geleistet wurde. Die Evangelische Kirche ist heute auch ganz klar und unumstößlich gegen rechtsradikale und rechtspopulistische Strömungen positioniert. Das heißt aber eben nicht, dass man einen Schlussstrich ziehen darf. Man muss hier sehr wachsam bleiben.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für Ihre Kirche in Österreich?

Die Frage, die wir uns stellen müssen ist, welchen Beitrag wir als Minderheit von 300.000 Menschen zum großen Ganzen in Österreich leisten. Also für das Miteinander der Religionen und das gesamte Zusammenleben in unserem Land. Und für Menschen, die unseren Einsatz brauchen, wie Flüchtlinge, Menschen, die unter der Armutsgrenze leben und Behinderte. Und wie wir zugleich in einer glaubwürdigen und einladenden Weise unsere Form des christlichen Glaubens leben und feiern können.

Und im globalen Kontext?

Die Kirchen und Religionen müssen generell ihre gemeinsame Verantwortung wahrnehmen, dass die weltweiten Konflikte nicht mit Gewalt gelöst werden und dass Gerechtigkeit das oberste Prinzip ist und die Schöpfung gewahrt werden sollte.

Abschließend, gibt es jemanden bei dem Sie gerne einmal nachhaken würden?

Bei verstorbenen Personen fällt mir Dietrich Bonhoeffer ein, ein evangelischer Widerstandskämpfer und Märtyrer. Unter den lebenden Personen will ich niemanden in Verlegenheit bringen, aber ich finde Meryl Streep sehr gut. Das wäre ein interessantes Gespräch.

Vielen Dank für das Gespräch!

Hafez: Rassismus gegenüber MuslimInnen spitzt sich zu

Er gilt europaweit als einer der führenden Experten zu den Themen Islamophobie und islamisch-politisches Denken. Seit 2010 publiziert Farid Hafez das bilinguale Jahrbuch für Islamophobieforschung, dem nun erstmals ein europäischer Bericht folgt. Der studierte Politologe ist regelmäßiger Gast in den österreichischen und internationalen Medien und forscht an den Universitäten in Wien und Salzburg. Im Interview spricht er darüber, wie der Unterschied zwischen Phobie und Kritik aussieht, welche Maßnahmen die Politik ergreifen kann und ob ein Vergleich mit Antisemitismus sinnvoll ist.

Alexander Pollak: Europa will eigentlich keine Flüchtlinge aufnehmen

Bereits mit 13 Jahren war der gebürtige Wiener auf den Straßen Österreichs, um für politische Ziele zu demonstrieren. Heute ist Alexander Pollak Sprecher der österreichischen Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch und meldet sich immer dann zu Wort, wenn es um die Ungerechtigkeit gegenüber Minderheiten und Schutzsuchenden geht. Im Interview spricht er über die fatale Flüchtlingspolitik Europas, den steigenden Hass gegenüber Musliminnen und Muslimen und darüber, was eine neuerliche FPÖ-Regierungsbeteiligung für Österreich bedeuten würde.

Wie gerecht ist die österreichische Gesellschaft?

Sie ist sicher nicht gerecht, aber natürlich ist die österreichische Gesellschaft weniger ungerecht als jene in vielen anderen Staaten dieser Welt. Es gibt hierzulande eine sehr große soziale Ungleichheit, Diskriminierungen aufgrund der Herkunft oder äußerer Merkmale sowie viele Hürden für Asylsuchende und ArbeitsmigrantInnen, die nach Österreich kommen. Von einer gerechten Gesellschaft sind wir noch weit entfernt.

Sehen Sie aktuell eher eine Veränderung zum Positiven oder zum Negativen?

In Bezug auf die soziale Ungleichheit deuten die statistischen Zahlen darauf hin, dass dieses Ungleichgewicht größer wird. Nach den starken Jahren des Wirtschaftswachstums und einer damit für viele Menschen verbundenen Mobilität nach oben, kam es in den vergangenen Jahren eher zu einer Stagnation sowie einer Entwicklung nach unten. Letzteres betrifft vor allem Menschen mit einem mittleren bis niedrigen Einkommen. Was das Zusammenleben betrifft, gibt es widersprüchliche Entwicklungen. Positiv sehe ich die neue Antidiskriminierungsgesetzgebung und eine gewisse Grundversorgung für Asylsuchende. Zugleich gibt es aber auch sehr viele Baustellen. Etwa der Asyl- und Flüchtlingsbereich, wo eine katastrophale Desintegrationsspolitik betrieben wird und der Integrationsminister die Augen vor der größten integrationspolitischen Herausforderung verschließt. Und es ist unsere Aufgabe hier weitere positive Entwicklungen voranzutreiben.

Wie schwierig ist so eine Aufgabe, wenn mediale Debatten zu diesen Thematiken oftmals sehr emotional geführt werden?

Ich denke, die gesamte Flüchtlingspolitik leidet darunter, dass so getan wird, als handle es sich nur um ein Randthema. Ein Randthema, das uns angeblich nicht so wirklich betrifft oder womit wir auch gar nichts zu tun haben. Das drückt sich in einer gewissen Abwehrpolitik aus, obwohl es in Europa eine solidarische Flüchtlingsaufnahmepolitik geben sollte. Wenn man von den einigen wenigen Resettlement-Programmen absieht, ist die Zielgröße für die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa quasi bei null. Es gibt daneben keine legalen Fluchtwege. Erst wenn die Menschen in Europa ankommen, beginnt man sich Gedanken zu machen, wie man mit ihnen umgeht. Diese von uns wegzuschieben führt dazu, dass Menschen auf so schreckliche Weisen ums Leben kommen.

Alexander Pollak: Europa will eigentlich keine Flüchtlinge aufnehmen (Bild: Christoph Hopf)

Gab es in Ihrem Leben einen besonderen Moment, wo Ihnen klar wurde, dass Sie Ihr Leben diesen Aufgaben widmen wollen?

Ich war eigentlich schon immer ein sehr politischer Mensch. Meine ersten Erinnerungen gehen zurück an den Bundespräsidentschaftswahlkampf von Kurt Waldheim – damals war ich zum ersten Mal demonstrieren. Ich begann mich intensiv mit der NS-Vergangenheit des Landes, dem Antisemitismus und der Medienlandschaft zu beschäftigen. Man könnte sagen, dass ich bereits mit 13 Jahren politisiert wurde.

Was hat sich seitdem in Bezug auf die Vergangenheitsaufarbeitung verändert?

Rund um Waldheim und danach gab es eine sehr intensive Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und der Beteiligung Österreichs. Natürlich gab es auch danach Verleugnungen. Was sicherlich heute nur noch schwer vorstellbar ist, war die damalige Verbreitung und Instrumentalisierung von antisemitischen Vorurteilen in den Massenmedien, um Pro-Waldheim und gegen jüdische Organisationen mobil zu machen. Heute gibt es einen sehr vorurteilsgeprägten Diskurs gegenüber Musliminnen und Muslimen und islamischen Strömungen. Demnach hat es hier sicher eine Verschiebung gegeben.

Wie bewerten Sie die viel zitierten Probleme mit ZuwanderInnen? Etwa im Gemeindebau oder in den Schulen?

Es ist eine Utopie zu glauben, dass das Zusammenleben in einer Gesellschaft perfekt und friktionsfrei sein kann. Wenn ich in einem Haus wohne, gibt es Menschen, die laut sind, eine Party feiern oder die Waschmaschine in der Nacht laufen lassen. Es gibt aber unterschiedliche Möglichkeiten damit umzugehen: Ich kann es kommunikativ mit den Nachbarn lösen oder den Konflikt ethnisieren und die Menschen aufgrund ihrer Herkunft bewerten. Derzeit befinden wir uns in einer Phase, wo aufgrund der medialen Berichterstattung und vor allem durch die Instrumentalisierung durch die FPÖ diese Alltagskonflikte als ethnische und religiöse Probleme wahrgenommen werden. Das halte ich für problematisch. Zugleich gibt es natürlich problematische religiöse und politische Strömungen, die nicht zu bagatellisieren sind. Deswegen sollten aber banale Alltagskonflikte nicht ethnisiert  werden. Menschen, die hier geboren sind oder auch schon einige Jahre hier leben, sollten nicht als Gäste, sondern als integraler Bestandteil dieser Gesellschaft gesehen werden.

Alexander Pollak: Europa will eigentlich keine Flüchtlinge aufnehmen (Bild: Christoph Hopf)
Bild: Christoph Hopf

Nehmen wir an, es gäbe in Europa keine Grenzen. Glauben Sie, dass die einzelnen Staaten einer uneingeschränkten Zuwanderung Stand halten könnten?

Am Ende des Tages sitzen wir alle in einem Boot und dieses Boot heißt Erde. Es gibt nur eine endliche Anzahl an Ressourcen, die wir uns teilen. Österreich lebt davon, dass es Rohstoffe, Waren und Lebensmittel importiert. Österreich ist kein autarkes Land, wir leben nicht auf einer Selbstversorgerinsel. Langfristig muss es möglich sein in einer Welt zu leben, die keine Grenzen hat. Natürlich ist ein solches Ziel kurzfristig nicht realisierbar. Man muss aber kleine Schritte in diese Richtung unternehmen, sodass wir auf diesem kleinen Planeten Erde zu einem nachhaltigen Lebensmodell kommen.

Welche Schritte wären das?

Man muss bei sich selbst beginnen. Solange es in Österreich religiöse oder ethnische Diskriminierung gibt, kommen wir nicht weiter. Es muss legale Fluchtwege nach Europa geben, eine europäische Einwanderungspolitik entstehen und Menschen ermöglicht werden, sich eine Arbeit zu suchen. Als ÖsterreicherIn hat man die sehr privilegierte Position ins EU-Ausland gehen zu können und somit so genannte WirtschaftsmigrantInnen zu werden. Und auch außerhalb Europas stehen uns sehr viele Möglichkeiten offen. Dieses soziale Ungleichgewicht muss man versuchen langsam aber stetig auszubalancieren.

2013 organisierten Sie die „Pass egal Wahl“. Gab es hier politische Konsequenzen?

Politisch hat sich nicht wirklich etwas weiterentwickelt. Es hat aber den teilnehmenden Menschen sehr viel bedeutet. Es waren Leute, die bislang noch nie in Österreich oder noch nie in ihrem Leben an einer Wahl teilgenommen haben. Da gab es einige sehr berührende Momente. Diese Menschen wollen an der Demokratie teilnehmen. Deshalb haben wir uns auch entschlossen, bei der kommenden Wien-Wahl eine Neuauflage der „Pass egal Wahl“ zu organisieren. Gerade in Wien ist mehr als ein Viertel der Wohnbevölkerung vom Recht den Gemeinderat zu wählen ausgeschlossen.

Alexander Pollak: Europa will eigentlich keine Flüchtlinge aufnehmen (Bild: Christoph Hopf)
Bild: Christoph Hopf

Warum tut sich Österreich hier so schwer?

Eine größere Wahlrechtsveränderung wäre nicht nur Bundessache, sondern müsste auch mit einer 2/3 Mehrheit im Parlament geschehen. Diese Mehrheit zu erlangen ist mit den derzeit vertretenen Parteien nur sehr schwer möglich, das ist uns auch bewusst. Zu viele setzen hier auf Polarisierung und darauf, dass sie Menschen gegeneinander ausspielen. Wir werden aber auch weiterhin Überzeugungsarbeit leisten.

Der 23. Jänner 1993 gilt sicher als Sternstunde ihrer Organisation. Wo sind die 300.000 Menschen des „Lichtermeer“ heute? Trauen sich Menschen heute weniger offen für etwas einzustehen?

Es ist nicht immer notwendig auf die Straße zu gehen. Gerade nach dem Lichtermeer hat sich sehr viel Positives in Bezug auf die österreichische Zivilgesellschaft getan. Wir haben heute eine wesentlich breitere und stärkere Zivilgesellschaft. In vielen Orten gibt es kleine Initiativen, die ehrenamtlich versuchen Flüchtlingen und Schutzsuchenden zu helfen. Viel an Engagement passiert heute nicht in Form von Demonstrationen, weil es einfach zahlreiche andere Möglichkeiten gibt, um sich zivilgesellschaftlich zu engagieren.

Übergriffe – verbal wie auch physisch – gegen MuslimInnen nehmen massiv zu. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Hier gibt es eine sehr negative Entwicklung, auch wir haben die vermehrten Angriffe im öffentlichen Raum, vor allem gegen Frauen mit einem Kopftuch, festgestellt. Wir sehen eine teilweise gehässige und undifferenzierte Medienberichterstattung, wo sehr gerne von „dem“ Islam gesprochen wird. Musliminnen und Muslime werden hier in einen Topf geworfen und politische Parteien treiben dieses Auseinanderdividieren zur Mehrheitsbevölkerung vehement voran. Dadurch entsteht eine sehr große Zerstörungskraft, die den sozialen Frieden bedroht. Und dagegen müssen wir unsere Stimme erheben. Wenn jemand Pöbeleien oder Übergriffe mitbekommt, dann soll er oder sie eingreifen oder die Polizei verständigen. Es muss klar sein, dass Hetze in Österreich keinen Platz haben darf.

Alexander Pollak: Europa will eigentlich keine Flüchtlinge aufnehmen (Bild: Christoph Hopf)
Bild: Christoph Hopf

In Deutschland brennen Moscheen und Asylheime. Entwickelt sich Europa ein wenig zurück in die frühen 90er Jahre?

Wir müssen uns mit der jetzigen Situation auseinandersetzen und die Probleme von heute lösen. Dort wo Asylunterkünfte sind oder errichtet werden, ist es sehr wichtig mit der dortigen Bevölkerung zu sprechen. An zahlreichen Orten in Österreich gab es Begegnungsveranstaltungen für neuankommende Asylsuchende und die ansässige Bevölkerung. Das waren sehr positive Veranstaltungen, wo viele Bedenken und Vorurteile ausgeräumt wurden. Beide Seiten konnten die Sorgen und Gedanken der anderen kennen und verstehen lernen. Die FPÖ hingegen versucht mit teils kriegerischen Begriffen wie „Invasoren“ Stimmung zu machen und das muss aufgebrochen werden. Dazu bedarf es Kommunikation und ja, hier wurden Fehler in der Politik gemacht. Wenn wie etwa in Tröglitz ein Asylheim in Brand gesteckt wird, darf man nicht zurückschreiten. Rechtsradikalen und Gewaltbereiten muss klar aufgezeigt werden, dass ihre Taten nicht dazu führen, dass weniger Menschen aufgenommen werden.

Die FPÖ wird bei den nächsten Nationalratswahlen ziemlich sicher auf eine Ebene mit SPÖ und ÖVP steigen. Was bedeutet eine mögliche blaue Regierungsbeteiligung für Österreich?

Es würde bedeuten, dass Menschen in Machtpositionen kommen, die ein rassistisches Weltbild vertreten. Diese Leute versuchen einen Keil zwischen die Menschen zu treiben und die Bürgerinnen und Bürger gegeneinander auszuspielen. Es würde auch bedeuten, dass Gelder für Integrations- und Flüchtlingsarbeit gekürzt und Menschenrechtsorganisationen nicht mehr gefördert werden. SOS Mitmensch ist diesbezüglich in einer guten Situation, wir sind unabhängig, aber für viele andere, die sehr wichtige Arbeit leisten, sind staatliche Förderungen überlebensnotwendig. Mit der FPÖ in der Regierung würde sich das Klima in Österreich insgesamt weiter verschärfen, gewaltbereite Menschen hätten das Gefühl, dass sie jetzt ihren Hass ausleben können. Es wäre mit Sicherheit eine sehr, sehr ungute Situation für das Zusammenleben in Österreich.

Wenn ich Ihnen eine Wunderlampe geben würde, was würden Sie sich für Österreich wünschen?

Puh, das ist eine gute Frage. Ich würde mir mehr Offenheit wünschen und dass Menschen erkennen, dass Vielfalt Normalität ist. Ein zweiter Wunsch wäre, dass es in Bezug auf die Flüchtlingspolitik keine halbherzige Politik mehr gibt. Menschen, die nach Österreich kommen, soll es vom ersten Tag an möglich sein Sprachkurse zu besuchen, sich weiterzubilden und nach kurzer Zeit Zugang zum Arbeitsmarkt zu erhalten. Mein dritter Wunsch wäre, dass es beim Thema soziale Gerechtigkeit zu keinem großen Auseinanderdriften kommt und dieser „Neiddiskurs“ gegen Menschen, die die Mindestsicherung beziehen und sehr wenig haben, aufhört. Im Gegenzug sollte bei denen, die viel haben, die Bereitschaft da sein, etwas davon abzugeben.

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Da gibt es immer wieder Politikerinnen und Politiker, bei denen ich gerne nachhaken würde. Und es gibt eine Reihe an interessanten Persönlichkeiten, mit denen ein Interview zu führen lohnenswert wäre. Wenn ich einen Vorschlag machen soll, dann nenne ich gerne die Frau Bock.

Vielen Dank für das Gespräch!

Esther Eisenhardt: Wir sind weder ein Muttishop noch ein Häkelblog

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Esther Eisenhardt kennt die deutsche Start-up-Welt wie ihre eigene Westentasche. Mehr als elf Jahre arbeitete sie bei Unternehmen wie Ebay, Brands4friends und Rebate Networks. Viele Jahre nach der Geburt ihrer beiden Kinder erkannte sie die großen Herausforderungen, vor denen unternehmerische Mütter stehen. 2014 gründete sie die Onlineplattform „Mompreneurs.de“, auf der sie regelmäßig selbständige Mütter und ihre Projekte vorstellt und ihnen ein umfassendes Netzwerk zur Verfügung stellt. Im Interview spricht sie über die Versäumnisse der deutschen Politik, veraltete Rollenbilder, das Vorbild USA und Erfolgsgeschichten von Müttern, die inspirieren und das Unmögliche möglich machen.

Wie bewerten Sie die Rolle der Politik in Deutschland? Gibt es hier ein Verständnis bzw. eine Unterstützung für selbstständige Mütter?

Eine schwierige Frage. Wir sollten zuerst über die Rolle der Gesellschaft sprechen. Da wird die Mutter immer noch in einer sehr traditionellen Rolle gesehen. Sobald eine Frau Kinder hat, dann ist sie diejenige, die in der Regel zurücktritt, während sich der Mann um die finanziellen Aspekte kümmert. Immer mehr junge Frauen wehren sich gegen dieses Rollenverständnis und gehen ihren eigenen Weg. Das bringt die notwendige Veränderung. Die Politik bemüht sich mittlerweile dieses Bild aufzubrechen. Das Elterngeld Plus ist eine positive Entwicklung, aber auch hier gibt es nicht wirklich eine für selbstständige Mütter zugeschnittene Lösung.

Für mich ist es wichtig, Erfolgsdenken neu zu definieren. Auch hier gibt es ein traditionelles Verständnis, dass aus meiner Sicht vorwiegend männlich geprägt ist, wonach erfolgreiches Unternehmertum zumeist mit dem „großen Wurf“ assoziiert wird. Das schreckt viele Frauen ab. Viele Frauen gründen, weil sie finanziell unabhängig sein wollen, flexibel arbeiten und oder sich selbst verwirklichen wollen. Die Technik und die Informationsgesellschaft spielen gerade Frauen mit Kindern in die Hände. Heute ist es viel einfacher, mit wenig Geld und wenig Risiko ein Business zu starten. Das reicht völlig aus, um zu erkennen, ob ein Bedarf für die eigene Idee am Markt besteht oder nicht.

Wo und wie genau sind Sie über den Begriff MomPreneur gestolpert?

Das ist jetzt schon ein paar Jahre her. Ich war damals in einer Situation, in der ich nach mehr als zehn Jahren genug vom Angestelltenverhältnis hatte. Ideen waren schon immer da und ich habe einfach begonnen viel zu lesen und über den Teich nach Amerika zu schauen. Mir war klar, dass ich etwas für Mütter machen wollte. Aber hierbei sollte es (mal nicht) um die Familie und oder die Kinder gehen, sondern eher um die Arbeitssituation von Müttern und wie ich diese verbessern kann. Ich bin in den USA über den Begriff „MomPreneur“ gestolpert. Mir gefiel dieser Begriff so sehr, dass ich mich mit der Idee der selbstständigen Mutter genauer auseinandersetzte. Und dann begann ich auch schon mit den ersten Netzwerktreffen, die rasch zu einem Erfolg wurden.

Gibt es Unterschiede zwischen den USA und Europa?

In Amerika ist der Begriff „MomPreneur“ viel etablierter und es ist selbstverständlicher, dass Mütter unternehmerisch tätig sind. Digitales Business ist zudem weiter entwickelt als in Deutschland. Aber die Situation verbessert sich und viele Frauen sind nicht mehr bereit auf ihre Karriere zu verzichten. Da gibt es viele, die sagen, dass sie jetzt lange genug ihrem Mann den Rücken freigehalten haben. Viele Mütter sind sehr qualifiziert und erfahren. Aber irgendwann ist leider der Zug abgefahren und deshalb wagen inzwischen mehr Mütter den Schritt in die Selbstständigkeit.

Ist „The Founding Mums“ ein Vorbild für Sie?

Natürlich ist das ein großartiges Projekt, aber ich möchte meinen eigenen Weg gehen.. Dieses Netzwerk gibt es ja bereits international. Ich möchte mich eher auf den deutschsprachigen Raum konzentrieren, weil es aus meiner Sicht hier noch viel zu wenig gibt. Die amerikanische Version baut sehr stark auf Networking-Treffen und Konferenzen auf. Ich möchte Frauen nicht 1:1 beraten, sondern möglichst viele Mütter erreichen. Wie etwa durch Webinare, Google Hangouts und meine geschlossene Facebook-Gruppe. Gerade letztere ist eine unglaubliche Ressource, die sehr viel genutzt wird. Es ist aber allen Mitgliedern klar, dass es darum geht, sich gegenseitig zu unterstützen und nicht einfach nur Werbung für das eigene Projekt zu machen. Für die Mütter sind das optimale Tools, um sich zu informieren und sich inspirieren zu lassen. Abends ist vor allem die Facebook-Gruppe total aktiv, weil die Kinder schlafen. Perspektivisch habe ich viele Ideen für MomPreneurs, die ich jetzt Schritt für Schritt angehe und teste.

Esther Eisenhardt: Wir sind weder ein Muttishop noch ein Häkelblog (Bild: Jagna Zuzanna Birkhof)
Bild: Jagna Zuzanna Birkhof

Wie sieht es mit Venture Capital aus? Denken Sie bereits an eine Investorin bzw. einen Investor?

Nein, eigentlich nicht. Das möchte ich derzeit nicht. Perspektivisch denke ich eher über Modelle wie Crowdfunding nach, weil ich eine große und aktive Community habe. Aber auch die Meetups sind eine gute Einnahmequelle. Bei MomPreneurs geht es mir darum ein organisches Business aufzubauen und nicht in kürzester Zeit viel Geld rauszuholen und das Business dann zu verkaufen. Und das ist eines der entscheidenden Frage bei Venture Capital. Ich brauche nicht so viel Geld. Lieber suche ich mir Sponsoren für die Meetups oder die Webinare. Wenn du mir etwas schenken kannst, dann schenke mir Zeit.

Gibt es eine Erfolgsgeschichte einer Mutter, die Sie besonders berührt?

Ja und zwar die Geschichte von Mareice Kaiser. Ihr Blog „Kaiserinnenreich“ ist mir sehr nahegegangen. Dort erzählt sie über ihre Erlebnisse als Mutter eines behinderten Kindes und wie Inklusion in der Familie gelingen kann. Ihr erstes Kind war ein Wunschkind, das Mädchen kam dann mit einem seltenen Chromosomenfehler zur Welt. Ihr ganzes Leben hat sich von einem auf den anderen Tagen schlagartig geändert. Sie mussten jedes Mal einen Rucksack mit einem Sauerstoffgerät mitschleppen. Mareice ist eine Kämpferin, die anderen Mut macht. Und das finde ich unglaublich inspirierend.

Bekommen Sie Feedback von selbstständigen Vätern?

Es gibt nur sehr wenige, die sich bei mir gemeldet haben oder gar gefragt haben, ob sie ins Netzwerk dürfen. Ich bin keine Extremfeministin, aber die Stimmung ist einfach eine andere, wenn sich Frauen untereinander alleine austauschen können. Sie sind mir dafür sehr dankbar und fühlen sich sicherer. Es geht oft auch einfach darum, Gleichgesinnte zu treffen, die wissen wie es ist und das eben nicht so einfach ist. Wenn etwa der eigene Mann keine wirkliche Unterstützung ist und das Business für ein Hobby hält.

Ich finde es toll, wenn sich ein Dadpreneur meldet und dem sage ich, dass sie eine eigene Initiative starten sollen. Ich sehe die Mehrbelastung immer noch bei den Frauen. Und ihnen will ich so gut wie möglich zur Seite stehen. Traurig ist einfach, dass es diesen Begriff des selbstständigen Vaters eigentlich gar nicht gibt. Viele Männer setzen ihre Karriere auch als Vater einfach fort, ohne eine Einschränkung zu erfahren. Und das regt mich immer wieder auf.

In Ihren Porträts fragen Sie nach den besten Tipps & Tricks für unternehmerische Mütter. Was sind Ihre besten Empfehlungen?

Das Wichtigste ist eine Vision zu haben, also sich klar zu machen, was man wirklich möchte und sich dann darauf zu konzentrieren. Dazu gehört eine gewisse Vereinfachung der Idee, um sich dem eigentlichen Ziel nähern zu können. Es ist ganz wichtig in sehr wenig Zeit viel zu schaffen. Also eine klare Priorisierung und Unterscheidung von Dringlichkeit und Wichtigkeit ist nötig. Ich achte sehr darauf, was ich wann mache. Es gibt bei mir ganz klare Fokuszeiten, in denen ich zwei Stunden am Stück an ganz bestimmten Themen arbeite. Da lasse ich mich weder von Anrufen noch von sozialen Medien ablenken. Zudem achte ich sehr auf meine Ernährung, ausreichend Bewegung und das Geheimrezept Schlaf.

Gibt es eine unternehmerische Kompetenz, die besonders Mütter einbringen können?

Als Mutter bist du gezwungen, multitaskingfähig zu sein. Wenn man ein Kind auf die Welt bringt, ist alles neu und man muss Dinge einfach mal machen. Und das ist eine wunderbare Voraussetzung für das Leben als Selbstständige. Zum anderen müssen Mütter sehr schnelle Entscheidungen treffen und das hilft oftmals viel fokussierter zu arbeiten und in gleicher Zeit viel mehr zu erreichen.

Was ist die erste Website, die eine angehende selbstständige Mutter lesen sollte?

Mompreneurs.de, ganz einfach. Das ist ja auch mein Ziel.

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Ich mag kontroverse Persönlichkeiten wie Steve Jobs. Aber letztlich finde ich es viel spannender mit Menschen wie Mareice zu sprechen. Also mit Menschen, die einen inspirieren und zu Tränen rühren. Einfach, weil sie so viel geschafft haben und sich nicht unterkriegen lassen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Erhard Busek: Für was stehen Parteien eigentlich noch?

Vier Jahre lang führte er die Geschicke der Österreichischen Volkspartei, war Vizekanzler, Wissenschaftsminister und stellvertretender Wiener Landeshauptmann. Erst eine Kampagne der „Kronen Zeitung“ beendete seine parteipolitische Laufbahn und brachte Wolfgang Schüssel an die ÖVP-Spitze. Erhard Busek setzte sich fortan für mitteleuropäische Interessen ein und leitet bis heute das Institut für den Donauraum und Mitteleuropa. Im Interview spricht der 74-jährige Wiener über die Performance der ÖVP, die Herausforderungen der katholischen Kirche, Europas Russlandpolitik und darüber, warum Kurz der erste richtige Außenminister seit langem ist.

Was hält Sie fit und stark im Leben?

Eine gute Frage. Es war mir immer wichtig Dinge zu tun, die interessant sowie spannend sind und einem etwas im Leben abverlangen. Ich bin ein starker Anhänger von Themenwechseln, das können sie in meiner Karriere genau verfolgen. Ich bin nicht monoman, aber oftmals ergibt sich ein neues spannendes Thema aus dem anderen.

Und gesundheitlich? Treiben Sie viel Sport?

Null. Ich war immer der Meinung Sport ist Mord, oder wie es Winston Churchill zu sagen pflegte: „No sports“. Das hat natürlich seine Nachteile, dafür zahlen Sie einen gewissen Preis. Aber bis jetzt halte ich es ganz gut aus. Solange mein Gehirn funktioniert, bin ich zufrieden.

Gibt oder gab es Momente, wo Sie das tagespolitische Geschäft vermissen?

Nein, die gab es niemals.

Weil?

Das ist je nach Aufgabenstellung verschieden, aber ich habe keine Lust mehr, mich ständig in die Tagespolitik einzumischen. Natürlich gibt es in meiner jetzigen Funktion auch Überschneidungen mit tagespolitischen Themen. Aber ich bin eher grundsatzorientiert, das ist mir auch das Angenehmste.

Erhard Busek: Parteien wissen nicht mehr, wofür sie wirklich stehen
Bild: Christoph Hopf

Hat sich in Sachen Tagespolitik viel verändert in den vergangenen Jahrzehnten?

Ja, das hat es. Hinsichtlich der Oberflächlichkeit der politischen Auseinandersetzung, aber auch der Kurzfristigkeit der Themen, dieser rasche Themenwechsel. Man geht nicht mehr in die Tiefe. Daran ist einerseits die Politik schuld, weil die Qualität – und das sage ich nicht aus Arroganz – der heutigen Akteure sicherlich abnimmt. Und andererseits ist es ein Problem der Vermittlung, sprich der Medien, die einfach immer schlechter werden. Es fehlt an tiefgehenden Analysen, weil es bei den Printmedien etwa an Zeit und Geld mangelt. Doch auch die elektronischen Medien haben eine gewisse Oberflächlichkeit, hier dominiert die akute, aggressive Meinung. Ich denke aber, dass sich dieser Umstand mit der Zeit verbessern wird.

Alexander Van der Bellen meinte in unserem Interview, dass Veränderungen in Österreich sehr viel Zeit beanspruchen. Sehen Sie das genauso?

Österreich ist ein konservatives Land, das steht außer Frage. Ich würde nicht sagen, dass es reaktionär ist, aber es herrscht ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Veränderungen. So in Richtung: Wenn ich nicht weiß, wohin das führt, dann will ich davon nichts wissen. Diese „Ablehnungsmentalität“ lässt sich vielleicht mit der doch relativ bewegten Vergangenheit Österreichs erklären. Da fehlt einfach noch eine gewisse Sicherheit. Wir sind damals mit einer zwei Drittel Mehrheit der Europäischen Union beigetreten und eine solche Mehrheit wehrt sich heute gegen einen Austritt. Zugleich sind wir aber gegenüber der EU ungemein skeptisch. Es ist ein bisschen schizophren.

Kann eine neue Politiker- und Politikerinnengeneration diesen Umstand ändern?

Die Hoffnung sollte man immer haben. Im Moment kann ich nur erkennen, dass es mehr Bewerber wie etwa die NEOS gibt. Es tauchen neue Listen auf, aber wie nachhaltig das ist, das traue ich mich nicht vorherzusagen. Mehr Wettbewerb ist jedoch immer gut. Zugleich muss aber auch eine Verlässlichkeit bei den Parteien untereinander bestehen, sodass man zu einer Einigung bei politischen Herausforderungen kommt. Das ist ja schlechter geworden, die Regierungskoalition leidet da eindeutig darunter. Aber auch die Opposition. Gemeinsame Positionen zu finden ist sicherlich schwierig, aber notwendig, um weiter zu kommen.

Erhard Busek: Parteien wissen nicht mehr, wofür sie wirklich stehen
Bild: Christoph Hopf

Wie bewerten Sie die aktuelle Performance der Bundes-ÖVP?

Die Performance aller Parteien ist gegenwärtig schlecht, das gilt sowohl für die beiden Regierungsparteien als auch für die Opposition. Wobei sich die FPÖ unter Strache derzeit zurücklehnen und hoffen kann, dass es für sie gut ausgeht. Das ist aber keine Performance, denn sie leben bloß von den Fehlern der anderen und das reicht für die Politik nie ganz aus. Aber – Mitterlehner ist eine Verbesserung.

Woran liegt das?

Ich denke, dass die etablierten Parteien nicht mehr wissen, wo sie genau stehen. Und die neuen Parteien sind dabei es herauszufinden, wie etwa die NEOS. Aber das ist sicherlich ein Prozess, der noch dauern wird. Viele agieren einfach opportunistisch, gemäß dem Denken: „wie kann ich die meisten Wähler catchen“. Und da drehen sich die Fahnen dann sehr stark nach dem Wind.

Wie lange funktioniert das Regieren der zwei großen Volksparteien?

Das wird so lange funktionieren, bis es eine Alternative gibt. Ich bin überzeugt, dass die beiden Regierungsparteien bei der nächsten oder übernächsten Wahl die absolute Mehrheit verlieren werden. Die Schwierigkeit liegt darin, dass nicht klar ist, wie eine andere Koalition aussehen kann und davon leben die beiden Parteien sehr stark. Die FPÖ hat sich bislang nicht positionieren können, da hängt ihr die Zeit von Schwarz-Blau noch zu sehr nach.

Wäre die FPÖ in der Lage 2018 Regierungsämter zu besetzen?

Meine Position zur FPÖ ist sehr einfach und die habe ich in einem Satz zusammengefasst: Mit dem Haider ist kein Staat zu machen. Und das obwohl der Haider wesentlich intelligenter war als Strache.

Erhard Busek: Parteien wissen nicht mehr, wofür sie wirklich stehen
Bild: Christoph Hopf

Ist Reinhold Mitterlehner die richtige Führungsperson, um die ÖVP wieder an die Spitze zu bringen?

Bislang ist eine eindeutige Verbesserung zu erkennen und daher habe ich derzeit Vertrauen in ihn.

Welche Rolle spielen die christlichen Wurzeln in der heutigen VP-Politik?

So gut wie keine mehr. Das Gros der Lokalpolitiker kommt vielleicht noch aus diesem Dunstkreis. Es hat  unter anderem damit zu tun, dass die katholische Kirche keine wirkliche politische Orientierung mehr hat. Ich hingegen stamme aus einer Zeit, in der die Kirche die Menschen aufgefordert hat, sich politisch zu engagieren. Das gibt es heute nicht mehr.

Woran liegt das?

Das hat einfach mit der Säkularisierung zu tun. Wobei man allerdings sagen muss, dass die gegenwärtige Situation eher wieder in Richtung Grundsatzfrage bzw. hin zur religiösen Orientierung  geht. Damit meine ich bestimmt nicht den „Islamic State“, um den sich manche bemühen. Der ist sicherlich ein entscheidendes globales Phänomen, aber lokal spielt er keine Rolle. Wir haben andere Herausforderungen, wie etwa Fragen rund um die Fortpflanzung oder über das Recht auf den Tod. Diese Fragen haben sehr stark mit dem Woher und Wohin des Lebens zu tun. Das ist auch eine ökologische und sehr moralische Frage: Präservieren wir unseren Globus, um ihn an eine neue Generation weiterzugeben oder nicht? Die ÖVP setzt hier auch viel zu wenige Akzente.

Sie setzen sich seit Jahren für Reformen in der Kirche ein. Sehen Sie hier erste Erfolge?

Eine wirklich positive Veränderung ist sicherlich die Wahl von Papst Franziskus. Ich kann mir nur wünschen, dass er mit der Kurie und dem Vatikan zurechtkommt. Das wäre zumindest seit langem wieder einmal eine religiöse Botschaft, die Akzente setzt. Das hatte bereits Johannes Paul II erreicht, aber dazwischen war eigentlich nicht sehr viel.

Und in Österreich?

Ich glaube die Kirche in Österreich weiß nicht wirklich, wofür sie steht. Zu meiner Zeit gab es so etwas wie Hirtenworte, Erklärungen der Bischofskonferenzen und so weiter. Das ist heute alles so gut wie weg. Der Kirche fehlt einfach der Mut. Eigentlich müssten die Kirche so viele Dinge nachdenklich stimmen. Ich höre immer wieder, dass die Politik uns neue Werte geben muss. Ich sage dann, dass ich schon mit den alten zufrieden bin und meine damit die zehn Gebote. Dann teste ich, wer diese noch kann. Da gewinnt mit großem Abstand das sechste Gebot, alles andere ist dann unsicher. Das heißt, es fehlt bereits ein grundsätzliches Verständnis.

Stichwort „würdevolles Schlagen“. Wurde der Papst missverstanden oder hat er über die Stränge geschlagen?

Da habe ich keine Ahnung, ich habe das nur kurz registriert. Aber es ist, wie vorhin schon angesprochen, eine Charakteristik der Medien, wonach bestimmte Aussagen überbetont werden. Interessant ist, dass er sich im Vergleich zu seinen Vorgängern mehr darum bemüht zeitgemäße Antworten zu finden, als sich in das theologische Wissen zu vertiefen. Ich befürchte, dass die Medien gewissen modischen Aspekten, wie der bereits angesprochenen Oberflächlichkeit, verfallen. Dieser berühmte „Klaps“ spielt in vielen Familien immer noch eine gewisse Rolle. Aber das tut man nicht, das sagt man nicht. Wir haben eine Schizophrenie zwischen dem, was sich gehört und den Wirklichkeiten des Lebens.

Erhard Busek: Parteien wissen nicht mehr, wofür sie wirklich stehen
Bild: Christoph Hopf

Kommen wir zur Außenpolitik Österreichs: Nach Michael Spindelegger gibt es mit Sebastian Kurz wohl wieder einen echten Außenminister. Sind Sie zufrieden mit seiner Arbeit?

Ihm verdanken wir, dass wir wieder so etwas wie Außenpolitik haben. Und wir werden auch wieder mehr wahrgenommen, das betrachte ich als sehr positiv. Ein Problem wird sicherlich eines Tages sein, dass man ihn fragen wird, was aus dem geworden ist, wofür er sich eingesetzt hat. Die Politik verlangt sehr wohl auch nach Ergebnissen. Da wünsche ich mir, dass er auf seine Ziele achtet, denn es ist mehr als eine vollmundige Ankündigung, strahlende Besuchsfotos und Handshakes erforderlich.

Wie erklären Sie sich den außenpolitischen Stillstand?

Ich glaube, dass Michael Spindelegger nichts davon verstanden hat, ganz einfach.

Hat Sebastian Kurz das Potential den außenpolitischen Spuren Kreiskys zu folgen?

Außenpolitische Themen benötigen viel mehr Öffentlichkeit in Österreich. Ich behaupte immer die zweite Bundeshymne Österreichs ist von Arik Brauer: „Hinter meiner, vorder meiner, links, rechts güts nix“. Also die Grundhaltung dieses Landes ist es, sich aus allem herauszuhalten. Das ist nun schon sehr lange der Fall. Die letzte außenpolitische Entscheidung mit innenpolitischer Wirkung, die wir getroffen haben, war der EU-Beitritt.

Wie bewerten Sie den Umgang der Europäischen Union mit Russland?

Dieser Umgang erfolgte zweifelsfrei ohne ein strategisches Konzept. Man hat die Folgeerscheinungen des Zerfalls der Sowjetunion viel zu wenig analysiert und ist den Amerikanern zum Opfer gefallen. Diese meinten, dass Russland marginal sei und die Europäer sich nicht darum kümmern sollten. Hier gab es nie eine gemeinsame Position. Darunter leidet die Ukraine. Ich glaube nicht, dass die meisten Mitgliedsländer wirklich über die Ukraine Bescheid wissen und das erschwert natürlich das Verhältnis zu Russland. Man muss dazu sagen, dass der Auftritt von Vladimir Putin neue, „alte“ Akzente, die an die Sowjetzeit erinnern, setzt. Damit hat keiner mehr gerechnet.

Meine Generation hat sich dem Friedensprojekt EU verschrieben. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass es noch einmal zu solchen militärischen Auseinandersetzungen in Europa kommen könnte. Putin ist besonders von seiner Zugehörigkeit zur Sowjetunion und seiner KGB-Vergangenheit geprägt. Er ist ein gewisser Risikofaktor für Russland selbst. Das sieht man auch an den immer noch ausständigen wirtschaftlichen Erfolgen. Das stimmt mich nachdenklich, denn er hatte lange Zeit sehr viel Geld, um hier notwendige Infrastrukturen aufzubauen.

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Das ist eine sehr gemischte Palette an Menschen quer durch Politik, Wirtschaft, Kunst und Kultur. Das ist aber eine sehr lange Liste. Ich hatte nie ein einziges großes Vorbild.

Vielen Dank für das Gespräch!

Oskar Deutsch: Es ist kein Affront, wenn Strache zu Israel steht

Im Februar 2012 übernahm der Wiener Oskar Deutsch das Amt des Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien sowie die Führung des Bundesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs (IKG). In den vergangenen Monaten kritisierte er mehrfach die Wiener Hofburg als Austragungsort für den Akademikerball und prangerte den seiner Meinung nach steigenden Antisemitismus von europäischen Musliminnen und Muslimen an. Im Interview spricht er über seine bisherigen Errungenschaften als IKG-Präsident, Antisemitismus in Europa, Straches Reise nach Israel und sein Problem mit der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich.

Fühlen Sie sich als jüdischer Bürger wohl in Österreich?

Ähm, ja ich fühle mich wohl und sehr sicher. Trotzdem beunruhigt mich die neue Form des islamischen Antisemitismus, die in Österreich sehr stark gestiegen ist. Ich weiß, dass sich die Sicherheitsbehörden darum kümmern, auch wenn es natürlich nie eine 100%ige Sicherheit gibt. Wien ist und bleibt aber eine wunderbare Stadt zum Leben.

Wie erklären Sie sich diesen Anstieg?

Der islamische Antisemitismus ist sowohl in Österreich als auch in vielen europäischen Staaten ein neues Phänomen. Dieses Problem hat es in der Vergangenheit nicht gegeben, weil nicht so viele Moslems in Europa gelebt haben. Jetzt ist das anders. Es geht diesen Leuten nicht gut, sie sind arbeitslos und somit lassen sie sich leicht radikalisieren. Das passiert im Internet und zum Teil auch durch einige Prediger in Moscheen. Und dann kommen noch islamische Schulen in Europa hinzu, wo gehetzt wird. Dadurch, dass die Anzahl der Moslems so groß ist, reicht schon ein kleiner Teil an Radikalen, die ein großes Problem darstellen.

In Deutschland werden mehr als 95 Prozent aller antisemitischen Gewalt- und Straftaten von Nicht-MuslimInnen verübt. In Österreich sind die Zahlen wohl ähnlich. Warum streichen Sie den Ihrer Meinung nach „islamischen“ Antisemitismus derart hervor? 

Von 2013 bis 2014 sind die Vorfälle, die uns vom Forum gegen Antisemitismus gemeldet wurden, um 100 Prozent gestiegen. Und diese stammen zu einem Großteil aus dem islamistischen Umfeld. Wenn bei Demonstrationen „Tod den Juden“ skandiert wird oder Sie sich bestimmte Internetseiten ansehen, ist man mit islamischem Antisemitismus konfrontiert. Diese Form des Antisemitismus steigt jedenfalls am stärksten.

In Salzburg und Niederösterreich sehen wir aber seit einiger Zeit Nazi-Schmierereien.

Sie werden von mir nie hören, dass irgendwo genug dagegen getan wird. Die Behörden bemühen sich, aber es ist schon beängstigend, dass es diese Schmierereien in Salzburg schon so lange gibt. Und es macht mir Angst, dass man hier keinen Riegel vorschieben kann.

Oskar Deutsch: Bin zufrieden, wenn Strache zu Israel steht
Bild: Martin Juen

Welche Maßnahmen dagegen sehen Sie als zielführend?

Es ist nicht die Aufgabe des IKG-Präsidenten über Maßnahmen nachzudenken. Dafür gibt es die Sicherheitsbehörden und diese müssen da einschreiten. Diese Leute müssen ausfindig gemacht werden und gehören vor Gericht. Die Justiz sollte solche Antisemiten hart bestrafen, sodass andere davon abgeschreckt werden.

Wird in den Schulen genug getan, um an die Gräuel der Nazis, aber auch an den modernen Antisemitismus zu erinnern?

Ich weiß nicht, ob über die neuen Formen des Antisemitismus in den Schulen gesprochen wird. Das wäre sicherlich sehr wichtig. Aber was ich weiß ist, dass  der Geschichtsunterricht bis vor ca. 20 Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg geendet hat. Das ist jetzt anders, nun werden die Schüler darüber aufgeklärt. Aber nicht nur das: Seit 10-12 Jahren fahren regelmäßig mehr als 500 Schülerinnen und Schüler aus ganz Österreich nach Auschwitz und nehmen am „March of the Living“ teil. In diesem Jahr findet die Veranstaltung vom 15.- 17. April statt.

Das heißt, dass im vergangenen Jahrzehnt über 6.000 junge Menschen diese Eindrücke erhalten haben, um zu verstehen, was damals passiert ist. Österreich bemüht sich sehr, aber auch hier: Es ist nie genug.

Sie haben vorhin ihre Sorge über einen so genannten „islamischen“ Antisemitismus angesprochen. In einem Interview mit der Tiroler Tageszeitung erwähnten Sie unbeantwortete Briefe an den Präsidenten der Islamischen Glaubensgemeinschaft. Haben Sie seitdem etwas von Fuat Sanac gehört?

Die Briefe sind noch nicht in der Kultusgemeinde angekommen (lacht). Leider. Wir haben vor einiger Zeit mit einem Brief auf eine Moschee im 20. Bezirk aufmerksam gemacht, wo Hetze gegen Juden betrieben wird. Das Ganze kann sich jeder auf YouTube ansehen. Darauf erhielten wir keine schriftliche Antwort. Dann wurde uns mündlich mitgeteilt, dass es sich um eine falsche Übersetzung handelte. Wir wissen aber, dass das nicht stimmt. Ein wichtiger Faktor im Kampf gegen den islamischen Antisemitismus ist die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich. Sie müssen auf die Imame und auf die islamischen Schulen einwirken, damit so etwas nicht mehr passiert. Dazu müsste man aber kooperieren. Und wenn sie das nicht wollen, ja, dann ist das sehr schade.

Können Sie sich diese Vorgehensweise erklären?
Ich kann mir Sachen denken, aber erklären kann ich es nicht. Was soll ich da erklären. Ich hoffe, dass die Zeit kommen wird, wo allen Seiten bewusst wird, dass es in Moscheen keine Hetze gegen Juden geben darf. Und da gehört ein starker Druck der Bundesregierung dazu, damit die Islamische Glaubensgemeinschaft endlich durchgreift.

Fuat Sanac veröffentlichte am 30. Jänner 2015 auf seiner Facebook-Seite ein Zitat von Martin Luther King zum Thema friedliches Zusammenleben. Im Original wird unter anderem gesagt: „Schwarze und Weiße, Menschen aus dem Osten und aus dem Westen, Heiden und Juden, Katholiken und Protestanten, Moslems und Hindus“. In besagtem Facebook-Posting fehlt der Teil mit den Juden. Können Sie sich erklären, warum es hier keinen Aufschrei gibt?

Ich sehe das zum ersten Mal. Aber ich wundere mich nicht. Auch im Zusammenhang mit dem, was ich vorhin gesagt habe. Leider.

Oskar Deutsch: Bin zufrieden, wenn Strache zu Israel steht
Bild: Martin Juen

Haben Sie die Debatte rund um das neue Islamgesetz verfolgt?

Sie müssen verstehen, dass ich mich zum Islamgesetz nicht äußern möchte. Außer, dass es scheint, dass es im Einvernehmen zwischen den Verantwortlichen der österreichischen Regierung und der Islamischen Glaubensgemeinschaft beschlossen wurde. Und so soll es sein.

Ich frage, weil zwischen der Begutachtungsphase und dem Beschluss des neuen Israelitengesetzes von 2012 eineinhalb Jahre vergangen sind. Deutlich mehr als beim Islamgesetz.

Ich bin stolz darauf, denn gut Ding braucht Weile. Wir haben wirklich jeden Punkt dieses Gesetzes mit den zuständigen Leuten im Kultusamt des Ministeriums genau durchbesprochen. Wir hatten auch intensive Diskussionen mit einem jüdischen Verein, der sich nicht ausreichend repräsentiert gefühlt hat. Letztlich konnten wir hier aber eine gemeinsame Lösung finden. Danach war innerjüdisch in Bezug auf das Gesetz alles in Ordnung. In der Politik muss man einfach mehr Geduld haben. Es gab in den gesamten Verhandlungen mit der Regierung eigentlich keine Punkte, die für eine der beiden Seiten wirklich problematisch waren. Wir sind froh, dass wir das Israelitengesetz in dieser Form durchgebracht haben.

Sie sorgen sich in mehreren Interviews um jüdische Gemeinden in Europa. Sind Sie für eine Auswanderung nach Israel?

Die radikalen Moslems werden uns Juden sicher nicht aus Österreich vertreiben. Letztlich ist das aber eine individuelle Entscheidung, ob jemand in Stockholm, London oder Jerusalem leben möchte. Diese Frage stellt sich immer wieder für diejenigen, die sich nicht wohl, nicht sicher, fühlen. Ich habe vorhin schon gesagt, dass es mir gut geht und es sehr angenehm ist hier zu leben.

Wie bewerten Sie die Nähe Straches zu Israel? Sehen Sie das als Affront?

Nein, ich bin zufrieden, wenn sich Politiker, egal von welcher Seite, positiv zu Israel äußern. Das tun einige extreme Politiker wie auch Geert Wilders, der jüngst in Wien war. Es kann aber nicht sein, dass man sich positiv zu Israel äußert und auf der anderen Seite den Islam angreift. Das ist nicht in unserem Sinne. Da handelt es sich auch um eine Minderheit. Ich warne vor radikalen Islamisten, aber die meisten Moslems sind friedliebende Menschen wie du und ich.

Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Antisemitismus und legitimer Kritik an Israel?

Natürlich kann man Israel kritisieren, niemand ist perfekt. Es ist klar, dass ich nicht mit jeder Entscheidung Israels einverstanden bin. Was mich aufregt sind Leute, die nur Israel kritisieren. Egal was in Syrien, der Ukraine oder im Irak passiert, es wird von diesen Leuten immer nur das kleine Israel angeprangert. Das ist für mich Antisemitismus.

Wie offen muss eine Demokratie im Umgang mit PEGIDA-Aufmärschen und Akademikerball sein?

Natürlich muss die Meinungsfreiheit garantiert sein, aber es gibt Grenzen. Wenn man „Tot den Juden“ skandiert, Hakenkreuze verwendet oder dazu aufruft Minderheiten zu töten, dann ist die rote Linie überschritten. Da muss die Exekutive ihrer Arbeit nachkommen, damit diese Grenzen eingehalten werden. Der Akademikerball hat beim besten Willen nichts in der Wiener Hofburg zu suchen. Dabei handelt es sich um die Visitenkarte Österreichs. Können Sie sich vorstellen, dass Rechtsradikale im Berliner Schloss Bellevue einen Ball veranstalten? Sicher nicht. Leider ist das in Österreich möglich und das gehört geändert. Ein Entgegenkommen der Hofburg sehe ich derzeit nicht. Ich bin kein Gegner des Balls, der soll aber gefälligst woanders stattfinden. Und ich werde bei diesem Thema niemals ruhig sein.

Geht Ihnen die erwähnte Grenze in Österreich weit genug? Reicht das aktuelle Verbotsgesetz?

Mir wird zu wenig getan, um gegen die Leute, die diese Grenze bei Demonstrationen überschreiten, vorzugehen. Da könnte mehr getan werden. Wir bekommen jedoch demnächst ein Gesetz gegen Hate-Speech. Und was ich davon bislang gesehen habe, ist hervorragend. Ich kann nur hoffen, dass es auch angewendet wird.

Sie waren viele Jahre Vorsitzender des Fußballvereins Maccabi Wien. Wie sind hier Ihre Erfahrungen mit Rassismus im Stadion?

Ich war mehr als 15 Jahre Präsident von Maccabi Wien. Es gab einige Ausschreitungen, einen Spielabbruch und antisemitische Rülpser, aber das waren die Ausnahmen. Auch wenn jede Ausnahme eine zu viel ist.

Oskar Deutsch: Bin zufrieden, wenn Strache zu Israel steht
Bild: Martin Juen

Was sehen Sie als Ihre größten Errungenschaften seit der Übernahme des Präsidentenamtes?

Mir ist wichtig, dass wir unsere Gemeinde immer mehr öffnen und uns als Teil Österreichs sehen. Wir organisieren regelmäßig einen Tag der offenen Tür, Treffen mit nichtjüdischen Schulklassen und vieles mehr. Dieses Langzeitprojekt funktioniert bislang sehr gut. Ende des Jahres eröffnen wir das Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien, das Wissenschaftlern ermöglicht, dem Holocaust in einer Zeit, in der immer weniger Zeitzeugen am Leben sind, nachzuforschen. Unsere Gemeinde gilt als eine sehr stark strukturierte mit einer sehr guten Infrastruktur. Jüdisches Leben, egal ob religiös oder säkular, findet mittlerweile 365 Tage im Jahr statt. Es gibt genügend Synagogen und Rabbiner, koschere Supermärkte, Restaurants, Schulen, Kindergärten aber auch ein sehr breites jüdisch-kulturelles Angebot wie Konzerte und Ausstellungen. Einfach ein tolles Angebot für jeden.

Was sind die größten Herausforderungen der Israelitischen Kultusgemeinde in den nächsten Jahren?

Es muss möglich sein, ein jüdisches Leben in Wien ohne Sicherheitskontrollen zu führen. So wie Kinder in eine katholische Schule gehen können ohne das Polizisten davor stehen. Das wäre für mich die größte Herausforderung. Wie realistisch das ist? Das weiß ich nicht, aber irgendwann wird das der Fall sein.

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Ich würde sehr gerne noch einmal mit Yitzhak Rabin ein längeres Gespräch führen. Er war ein Visionär, er wollte das, was ich für richtig halte: ein friedliches Israel mit Sicherheit auf allen Seiten.

Vielen Dank für das Gespräch!

Maria Vassilakou: Ich bin kein antikes Klageweib auf alle Ewigkeit

Unter ihrer Führung gelang es den Grünen erstmals Teil einer Wiener Regierung zu sein. Maria Vassilakou hat in den vergangenen Jahren viele grüne Themen umgesetzt: von der Erweiterung der Parkraumwirtschaft über günstige Verkehrstickets bis hin zum Großprojekt Mariahilfer Straße. Nur wenige Tage nach dem überraschenden Wechsel von Senol Akkilic zur SPÖ und einer damit einhergehenden Blockade der Wahlrechtsreform spricht Wiens Vizebürgermeisterin erstmals ausführlich über den großen Vertrauensbruch. Weitere Themen des Interviews sind grüne Errungenschaften in der Hauptstadt, eine Koalition mit der FPÖ, politische Visionen und wie Mark Twain ihr über die Causa Akkilic hinweghilft.

Wie viel Vertrauen haben Sie noch in die SPÖ?

Für unsere Vision ist die Frage des Vertrauens eine sehr zentrale: Wir wollten, dass Rot-Grün ein funktionierendes Modell für eine Politikerneuerung in ganz Österreich wird. Davon sind wir aktuell aber leider weit entfernt. Vielleicht ist genau das der Grund für mein blankes Entsetzen in den letzten Tagen. Ich habe in den vergangenen Jahren tatsächlich an den Versuch geglaubt, dieses klassische Hickhack in der Politik und diese Kurzsichtigkeit des parteipolitischen Denkens zu überwinden. Mein Wunsch war, dass sich unsere zwei Parteien, die natürlich sehr unterschiedlich sind, auf das Wesentliche konzentrieren. Ich dachte es wäre möglich eine gemeinsame Mission zu formulieren, um den Stillstand zu überwinden, viel Neues zuzulassen und den Fokus auf soziale Gerechtigkeit und ökologische Projekte zu legen.

Und wir haben auch sehr viel davon geschafft, etwa die Neuerrichtung von Gemeindebauten, die Erweiterung der Parkraumbewirtschaftung, die höchste Mindestsicherung Österreichs für Kinder und Jugendliche, billigere Tickets für öffentliche Verkehrsmittel bis hin zur Fußgängerzone Mariahilferstraße. Diese Projekte verändern nicht nur die Stadt, sondern auch den Alltag der Menschen, und zwar zum Besseren. Und da schließt sich für mich der Kreis. Ich dachte, dass wir einen gemeinsamen Zugang haben. Dann kam dieses bitterböse Erwachen rund um den Abgang von Senol Akkilic und das finde ich einfach nur sehr schade. Zugegeben, es fällt mir gerade schwer zu jener Art von Politik zurück zu finden, die ich vorhin beschrieb.

Erinnern Sie sich an Ihr erstes Treffen mit Senol Akkilic?

Ich kenne ihn schon so lange, dass ich ehrlich gesagt keine konkrete Erinnerung an das erste Treffen habe. Es muss aber weit über 20 Jahre zurückliegen. Als ich zu den Grünen kam, waren wir gerade zwei von drei Migrantinnen und Migranten. Soviel sei dazu gesagt.

Glauben Sie, dass Sie sich jemals mit ihm versöhnen werden?

Ich wüsste nicht, was es bringen sollte.

Maria Vassilakou: Ich bin kein Klageweib auf alle Ewigkeit (Bild: Martin Juen)
Bild: Martin Juen

In den sozialen Medien sind Vorwürfe des Machterhalts laut geworden. Wie stehen Sie dazu?

Es geht nicht um einen Machterhalt, genau das ist der große Irrtum. Ich verstehe die Emotionen der Menschen, die sagen, das kann man sich nicht gefallen lassen. Das tut man eigentlich auch nicht. Wenn wir jetzt aber beleidigt oder gekränkt das Feld räumen, was haben wir dann erreicht? De facto sind es nur noch drei Monate bis zur Sommerpause und danach befinden wir uns bereits mitten in der heißen Phase des Wahlkampfs. Wie absurd wäre es diese wenigen Monate nicht dazu zu nützen, die Projekte, die uns sehr am Herzen liegen, voranzutreiben? Und wie absurd wäre es die Stadt einer im Machtrausch befindlichen SPÖ zu überlassen? Wir sind doch alle zu den Grünen gegangen, um zu kämpfen. Und kämpfen heißt nicht „es reicht“ zu sagen. Der Letzte, der das gesagt hat, war Wilhelm Molterer und was dann kam, das will ich nicht haben (lacht).

Alexander Van der Bellen kritisierte in unserem Interview, dass die Grünen einen Notariatsakt in Bezug auf die Wahlrechtsreform unterschrieben haben. War das ein Fehler?

Diese Einschätzung von ihm teile ich nicht ganz. Was ich nie wieder tun würde, ist eine derart peinliche Inszenierung mitzumachen. Doch der Kampf um ein faires und neues Wahlrecht in Wien geht ja viel weiter zurück, bis in die späten 1990er. Damals hatte sich die SPÖ dieses für sie förderliche Wahlrecht zurechtgezimmert. Und mit Sicherheit hat das dazu geführt, dass die SPÖ danach immer wieder mit weniger als 50% der Stimmen die Absolute erreichen konnte. Diese Ungerechtigkeit möchte ich seit meiner aktiven Zeit als Gemeinderätin 1996 beseitigen. Denn die Art und Weise, wie Parteien mit der Macht umgehen hängt auch davon ab wie sie überhaupt an die Macht kommen. Billige Macht kann sehr schnell missbraucht werden. Das bleibt nicht unbemerkt und führt unter anderem zu der weit verbreiteten Politikverdrossenheit. Und das ist mit Schuld daran, dass die Sozialdemokratie europaweit gerade erodiert. Was mich zu der Frage des Machterhalts zurückbringt: Den Teufel werde ich tun, diesen Kampf gegen Ungerechtigkeit aufzugeben!

Was würden Sie bei einer eventuellen Koalitionsneuauflage anders machen, um die Wahlrechtsreform doch noch durchzubringen?

Ich fürchte, da hat die SPÖ die Tür zum Kompromiss geschlossen. Hätte die SPÖ wirklich einen ehrlichen Kompromiss angestrebt, dann hätten wir ihn auch erreicht. Auch wenn wir damit keine perfekte Lösung erzielt hätten, im Leben ist selten etwas perfekt. Mit ihrer  skrupellosen und unehrlichen Art hat die SPÖ es geschafft,  das Kapitel  Wahlrechtsreform vorerst zu beenden. Und mit wem die SPÖ auch immer nach der Wahl verhandelt, keine Partei, die dieses Schauspiel vom vergangenen Freitag (27. März 2015) erlebt hat, wird es ignorieren können. Diesen Stil und diese „Allmachtdemonstration“ vergessen auch die Wählerinnen und Wähler nicht, da bin ich sicher. Und ich gehe von einem Wahlergebnis aus, dass der SPÖ einige Verluste aufgrund dieses Verhaltens einbringen wird. Und das war es dann auch. Ich möchte kein antikes Klageweib auf alle Ewigkeit sein, ich bin nicht Elektra (lacht). Mir ist es wichtiger Projekte voranzutreiben, wie etwa eine verkehrsberuhigte Zone in allen Bezirken Wiens, faire Mieten in den Altbauten und eine Kindergartengarantie für jedes Kind ab zwei. Und wenn die SPÖ wie sie jetzt ist, die Krot‘ ist, die ich dazu schlucken muss, dann schluck ich sie.

Maria Vassilakou: Ich bin kein Klageweib auf alle Ewigkeit (Bild: Martin Juen)
Bild: Martin Juen

Können Sie sich eine Koalition mit Blau-Schwarz bzw. NEOS vorstellen?

Nein, denn dazu würde die FPÖ gehören und das ist für mich undenkbar. Mit einer solchen reaktionären und faschistoiden Kraft ist ein gemeinsames Regieren nicht möglich. Anders denkt hingegen die SPÖ, die den von Spindoktoren inszenierten Kampf um Wien hochstilisiert, aber genau weiß, dass sie von der FPÖ nicht aus dem Amt gejagt werden kann. Denn es gibt ja bereits einige rot-blaue Gemeinden. Aber da geht es natürlich auch um Stimmenmaximierung. Jedes Kind in Wien weiß, dass der Strache hier nie etwas werden wird. Diese Vermittlung eines Bedrohungsszenarios, wonach sich alle sinisteren Kräfte zusammentun, ist lächerlich. Starke Grüne sind der Garant dafür, dass keine andere Mehrheit ohne SPÖ regieren kann.

Blicken wir zurück auf die vergangenen fünf Jahre. Sind Sie zufrieden? Mehr als 130 000 Wiener Alleinerzieherinnen leben in Armut. Wie kann so etwas passieren?

Wir leben noch immer in einer Gesellschaft, wo Mädchen leider in Klischees gepresst werden. Dazu kommt eine Schul- und Bildungspolitik, die ebenfalls zu wenig Bedacht darauf nimmt, das klassische Bild des Mannes als Erhalter der Familie und der Frau als Mutter zu durchbrechen. Das führt dazu, dass viele junge Frauen nach der Geburt ihrer Kinder viele Jahre auf ihre Arbeit verzichten. Das kombiniert mit der Scheidungsstatistik ist die größte Armutsfalle, in die junge Frauen tappen. Arbeitslos und zwei kleine Kinder an der Hand, das war‘s. Damit einhergehend ist eine vermeintlich lebenslange Abhängigkeit von einem Mann, der vielleicht Alimente bezahlt oder auch nicht.

Haben die Grünen hier zu wenig gemacht?

Die Grünen haben in ihrer ersten Legislaturperiode ihren Schwerpunkt auf Sozialpolitik gelegt, daher auch die bereits erwähnte höchste Kindermindestsicherung. Und das ist zumindest eine Antwort. Ich gebe zu, dass das eher eine Symptombekämpfung als eine Ursachenbeseitigung ist. Ich verspreche aber in den kommenden Jahren unseren Schwerpunkt auf Kinderbetreuung im Kindergarten und in der Schule zu legen. Wenn ich Rahmenbedingungen für junge Frauen schaffe, die es ermöglichen, die ersten Jahre nach der Geburt optimal für sich zu gestalten, dann ist das die bestmögliche Frauenpolitik. Es ist verantwortungslos, dauernd zu betonen wie wichtig Frauenförderung ist, aber gleichzeitig das System der Kinderbetreuung nicht so zu gestalten, dass
junge Frauen tatsächlich die Möglichkeit haben, in ihrem Berufsleben keine Abstriche machen zu müssen. Deswegen brauchen wir eine Kindergartenplatzgarantie.

Maria Vassilakou: Ich bin kein Klageweib auf alle Ewigkeit (Bild: Martin Juen)
Bild: Martin Juen

Wie sind Sie mit dem Zusammenleben in Wien zufrieden?

Zufrieden sollte man niemals sein. Im Vergleich zu anderen Städten in Europa steht Wien jedoch sehr gut da. Wichtig war vor allem, dass die Mieten in den gründerzeitlichen Wohnungen lange Zeit günstig waren. Somit konnte einer Ghettoisierung wie etwa in den Vororten Paris sehr gut entgegengewirkt werden. Zuwanderinnen und Zuwanderer konnten sich über eine lange Zeit, verteilt über das gesamte Stadtgebiet, vor allem innerstädtisch, sehr gut niederlassen. Das ist ein zentraler Erfolgsfaktor für den sozialen Frieden in unserer Stadt. Es gibt aber auch bei uns noch viele Verbesserungsmöglichkeiten, wie etwa in den Schulen.

Es liegt auf der Hand, dass sich das Schulsystem bei mehr als 50% an Kindern mit Migrationshintergrund radikal ändern muss. Jedes Kind soll bei der Einschulung ausreichend Deutsch können, um dem Unterricht optimal folgen zu können. Die Mehrsprachigkeit ist aber keine Last, sondern eine Chance, in die man investieren muss. Von dieser Art von Schule sind wir aber leider sehr weit entfernt. Scheitert ein Kind bereits in der Volksschule, erben wir einen frustrierten Jugendlichen, der sich irgendwann zu einem „Druckkochtopf“ entwickelt, der eines Tages explodiert. Gnade Gott demjenigen, der dann in der Nähe ist. Vor diesem Hintergrund kann man sehen, wie und woher die Beute für Hassprediger und Radikalisierung kommt.

Was ist ihr persönliches Ziel für die Wahl 2015?

Das bestmögliche grüne Wahlergebnis zu erzielen, wobei ich denke, dass 15 Prozent eine sehr gute Basis für Grüne in der Regierung wären. Und ich will die Grünen in die nächste Regierung führen.

Maria Vassilakou: Ich bin kein Klageweib auf alle Ewigkeit (Bild: Martin Juen)
Bild: Martin Juen

Wird es jemals eine Wiener Bürgermeisterin Vassilakou geben?

(lacht) Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, ich wäre nicht gern Bürgermeisterin von Wien. Aber ich fürchte die absolute Mehrheit wird sich bei der nächsten Wahl noch nicht einstellen.

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Mark Twain. Er war ein unglaublich brillanter Geist, ein politisch sehr versierter und bewegter Mensch. Ein Philosoph im wahrsten Sinne des Wortes. Und ein Revoluzzer. Er spendet mir bis heute noch ein Trost, wie etwa am vergangenen Freitag, als mir einfiel: „When we remember we are all mad, the mysteries disappear and life stands explained.”

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Wie die Zeit vergeht: Ein Rückblick auf vier Wochen Nachgehakt.at

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Als bekennender News-Junkie überrollt mich täglich eine erbarmungslose Nachrichtenwelle, egal ob in meinem gefilterten Twitter-Feed oder in Apps wie Storyclash und Updatemi. Dieser oberflächliche und aggressive Journalismus ist so gar nicht das, was ich einmal bewundert habe. Alles muss raus und das sofort. Nachgefragt wird später. In Zeiten von Buzzfeed, Heftig.co und der boulevardesken Qualitätspresse bleibt wenig Platz für Tiefgang. Und damit meine ich nicht die in den Supermarktregalen und Trafiken dahinschimmelnden Printmedien. Jaja, es gibt Ausnahmen. An dieser Stelle ein Shoutout an DATUM und das neue Forbes Austria. Aber auch Österreich wird eines Tages erkennen, dass Print so gar nicht die Zukunft ist.

Warum nicht spannende Persönlichkeiten abseits des Tagesgeschehens und ohne zeitlichen Druck befragen? Ihren Gedanken Raum und Zeit geben und mögen sie noch so absurd, provokant und kritisch sein. Nachgehakt.at versucht genau diesen Platz zu füllen. Ein Monat später verzeichnet die Website zigtausende Zugriffe, eine hohe Anzahl an wiederkehrenden Leserinnen und Leser und viel Lob in den sozialen Medien. Und das alles mit einem Marketingbudget, das einer Spesenrechnung eines traditionellen Medienmachers gleicht. Selbstverständlich ohne den exquisiten Kaviar und die kubanischen Zigarren.

Und die interviewten Personen? Die waren überrascht. Positiv überrascht über die Fragestellungen und den frischen Wind. Eigentlich könnte alles so schön sein, oder? Naja. Ein Geschäftsmodell für ein digitales Nachrichtenmedium in Österreich zu etablieren ist ähnlich wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Da wird einem geraten ein Printprodukt zu drucken, einfach nur um an Werbegelder zu kommen. Oder man solle 100 Förderanträge ausfüllen und auf das Beste hoffen. Oder Banner, aber nein, die finde ich einfach nicht so toll. Ein schwieriges Unterfangen, das ist mir bewusst.

Und dann ist da die Sache mit der Autorisierung. Klar, das ist schon in Ordnung. Was mich aber schockiert, ist die Dreistigkeit wie auf Tonband aufgenommene Interviews im Nachhinein umgeschrieben werden. Vom Hinzudichten neuer Inhalte bis hin zum Streichen ganzer Absätze. Dieser fehlende Mut ist irgendwie beängstigend. Leben wir wirklich in einer Zeit, wo die politische Korrektheit alles überstrahlt? Oder ist es die Angst vor der digitalen Welt, die niemals vergisst? Unabhängig davon, fanden wir bislang immer eine für beide Seiten annehmbare Lösung. Wir werden das Thema Autorisierung von nun an anders angehen. Wer weiß, was die Zukunft bringt.

In diesem Sinne ein großes Dankeschön an die vielen Leserinnen und Leser. Danke für all das Lob und das kritische Feedback. Neue spannende Gespräche stehen in den Startlöchern. Und noch einiges mehr. Lassen Sie sich überraschen!

Silvia Jelincic: Das Bashing bringt uns unglaublich viele Leser

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Sie war mehr als zehn Jahre in Österreichs Wirtschaft als Journalistin unterwegs. Jetzt möchte Silvia Jelincic neu durchstarten. Mit der im Herbst 2014 gestarteten Blogplattform „fisch + fleisch“ sorgte sie innerhalb weniger Wochen für Aufsehen. Österreichs soziale Medien standen auf dem Kopf. Im Interview spricht sie über die selbst ernannten Tugendwächter der Alpenrepublik, die besondere Beziehung von Menschen zu Pflanzen und einem Termin bei Christoph Dichand.

Muss ein in Österreich gestartetes Medienprojekt provozieren, um wahrgenommen zu werden?

Puh, Sie stellen Fragen (lacht). Jeder Mensch nimmt Provokationen anders wahr. Erst jüngst bloggte jemand auf unserer Plattform über das Thema Homöopathie. Für Leute, die absolut nicht daran glauben, war der Beitrag extrem provokant. Daraus hat sich eine fast endlose Diskussion ergeben. Also ja, es ist wohl notwendig.

Neue digitale Projekte sorgen in Österreich für viel Aufsehen. Steckt der Journalismus hierzulande in einer Krise?

Ja, ich denke schon. Sehr viele Menschen in dieser Branche nehmen sich zu wichtig. Es gibt so viele Tugendwächter in unserem Land. Sie glauben, dass sie die Wahrheit gepachtet haben und nur sie wissen, wie es geht. Diese Zeiten sind aber vorbei. Die Leute sollten sich ein wenig zurücklehnen und über den Tellerrand schauen. International hat sich so viel verändert, wir alle müssen uns weiterentwickeln. Es schockiert mich immer wieder, wie anerkannte Meinungsbildner über uns herziehen, die Art, wie sie es tun, schockiert mich. Diese selbst ernannten Tugendwächter wollen anderen vorschreiben, was geht und was nicht. Aber das sollte jede und jeder für sich entscheiden können. Offenheit und echte Toleranz sind enorm wichtig, vor allem in unserer Medienbranche. Und dafür trete ich ein. Auch wenn es blöd klingt, da bin ich Conchita.

Silvia Jelincic: Das Bashing bringt uns unglaublich viele Leser
Bild: Christoph Hopf

Wie haben Sie reagiert, als sich Armin Wolf sehr kritisch auf Twitter zu Wort gemeldet hat?

Ich nehme ihn natürlich ernst, so wie ich prinzipiell jeden ernst nehme. Was mich aber enttäuscht hat, wie er kommentiert hat – gehässig. Das hätte ich mir von einem Menschen mit einem sonst hohen Niveau nicht erwartet. Ich gebe zu, dass ich sehr emotional und wenig feinfühlig reagiert habe, vermutlich war ich ebenso gehässig und sogar noch schlimmer als er. Bei der Kritik von Armin Wolf ging es einmal um den Text von Josef Zotter, einem wirklich coolen und sehr offenen Typen. Er hat darin ein Gedankenspiel diskutiert, wonach es nur eine einzige Steuer, nämlich die Konsumsteuer, geben sollte. Diese scharfe Kritik von Armin Wolf, die hat mich schockiert. Lasst doch sein Gedankenspiel zu, wie absurd es einem selbst auch erscheinen mag. Das ist Toleranz. Gleich zu sagen, alles ist scheiße und alles ist schlecht, genau deshalb haben wir diese Probleme. Diese Angst vor Veränderung, vor Dingen, die anders sind. Es klingt vielleicht abgedroschen, aber ich liebe Menschen. Und ich möchte jedem die Freiheit erlauben, über das zu schreiben, was er möchte, solange es nicht gegen geltendes Recht verstößt.

Wie erklären Sie sich die recht überschaubare Blog-Sphäre in Österreich?

Das Problem ist, dass viele davon nicht leben können. Wenn jemand nebenbei gut verdient, dann wird er mit seinem Blog sicher wahrgenommen, dann ist es egal, er braucht das Geld nicht, aber wenn nicht, dann wird es schwierig. Und so geht es vielen in Österreich, der Schweiz und auch Deutschland. Es ist viel schwieriger, den notwendigen Traffic in einem so kleinen Land zu generieren. Aber es ist definitiv im Kommen, davon bin ich überzeugt. Mir haben viele Leute erzählt, dass sie durch unsere Plattform viele neue Leser für ihren eigenen Blog gewonnen haben. Das freut mich natürlich ungemein. Das möchten wir auch weiter pushen und mehr Raum in den neuen User-Profilen schaffen, sodass sie ihre eigenen Plattformen bewerben können. Es geht um einen Mehrwert für alle und nicht um „meine“ Leser. Was etwa Christian Rainer mit dem „profil“ im Internet aufführt. Ich schätze ihn sehr, ein intelligenter Kerl, aber das wird ihn überrollen. Er ist wie ein Dinosaurier. Schade um so einen klugen Kopf. Dieses Klammern an alte Medienstrukturen sollte aufhören.

Welches Ziel verfolgen Sie mit „fisch + fleisch“?

Natürlich soll sich ein Traum für uns verwirklichen, also dass wir richtig groß werden. Eine große Community mit interessanten Beiträgen, wo jeder schreiben kann, was ihm/ihr wichtig ist. Egal, ob Politik, Wirtschaft, Soziales oder Privates. Wir werden uns bemühen, unseren Usern das zu bieten, was sie dafür benötigen. Erst vor wenigen hatten wir an einem Tag wieder über 10.000 Besucher auf der Plattform, das hat mich umgehauen. Wir sind ja noch in der Testphase und bereiten jetzt die Umstellung auf das neue Design vor. Die Plattform wird deutlich klarer und strukturierter aussehen. Dann kommt das Geld vom Investor und wir werden einiges in unterschiedliche Werbemaßnahmen investieren. In nächster Zeit kommen noch einige bekannte Blogger aus Deutschland dazu.

Wohl kaum ein Medium auf der Welt hatte so schnell ein satirisches Gegenstück.

(lacht) Ich liebe „Grammeln + Schmalz“.

Silvia Jelincic: Das Bashing bringt uns unglaublich viele Leser
Bild: Christoph Hopf

Warum regen sich alle so auf?

Weil sie sich nicht bestätigt sehen. Auch ich muss mich manchmal ärgern, weil jemand nicht meiner Meinung ist. Und genau das ist das Problem. Auch wenn es für mich vielleicht absurd und fahrlässig ist, wenn jemand seine Kinder nicht impfen lassen will, ist es nun einmal seine/ihre Meinung. Auch wenn es uns nicht passt. Und diese andere Meinung ist natürlich gesetzlich zulässig. Wir haben erst vor kurzem wieder einen geblockt, weil er ständig ausländerfeindliche Dinge auf unserer Plattform gepostet hat. Da passen wir natürlich auf. Und wenn wir einmal etwas übersehen, dann bitte einfach den „Beitrag melden“ Button klicken, und wir kümmern uns darum.

Ist diese Angewohnheit sich aufzuregen etwas Spezifisches für Österreich?

Na ja, natürlich sind Länder wie die USA oder Großbritannien viel offener für solche Medienprojekte. Aber auch hier bei uns gibt es mittlerweile eine sehr offene junge Szene und auch die ältere Zielgruppe ist sehr interessiert. Ich dachte, uns klicken die 20-jährigen Leser an, aber nein sie sind eher 30+. Ich finde halt dieses ständige Vorverurteilen einfach unnötig.

Ihr Logo erinnert an einen Fisch, der in ein Hinterteil beißt. Hat Ihnen das schon jemand gesagt?

Jetzt werden alle Tugendwächter, die mich so gerne kritisieren, ziemlich glücklich sein und viele werden mir schreiben, dass sie es schon immer gewusst haben: „Ich bin eine Verschwörungstheoretikerin – puh!“ Also: Es gibt einen jungen Mann, der bereits mit zirka 20 Jahren Chefdesigner bei XXL Lutz war und danach Einrichtungen für zahlreiche Yachten von Oligarchen entwarf. Er ist ein Freak. Danach hat er sich selbstständig gemacht, um sein eigenes Ding durchzuziehen. Und er hat unser Logo gemacht. Er ist überzeugt von der Kraft der Formen, wie sie einst von Leonardo Da Vinci geprägt wurden, das sagt er zumindest. Er benutzte die Fischblase, weil sie eben ein solches altes Symbol ist. Und ich solle daran glauben. Ich weiß nicht, ob ich daran glaube, aber nutzt’ nix, schad’s nix. Also muss man sich diesen Popo zu Ende denken, um die Fischblase zu erkennen. Er meinte, das kann nur ein Erfolgslogo sein, wie etwa das von Chanel oder Mastercard, die haben auch so Formen. Also, Achtung Verschwörung, böse Esoterik (lacht).

Möchten Sie etablierten Medien in Österreich in den Hintern beißen?

Das war nicht mein Anspruch, also irgendjemandem etwas zu beweisen. Es ist mir so was von wurscht. Ob die da oben es geil finden oder nicht, ist mir egal.

Silvia Jelincic: Das Bashing bringt uns unglaublich viele Leser
Bild: Christoph Hopf

Helge Fahrnberger fragte auf Twitter, warum so viele Menschen bei Ihnen bloggen.

Helge Fahrnberger, dieser Medien-Mann? Ich glaube, weil sie sehen, dass es an der Zeit ist für ein offenes Produkt, das den Leuten die Möglichkeit zur Mitsprache ermöglicht. Jeder kann sich selbst positionieren und die Leute finden diese Vielfalt sehr gut. Sei es Anneliese Rohrer oder Susanne Scholl, diese Großen sind begeistert. Es ist uns bislang niemand abgesprungen, niemand von den Schreibern hat uns verurteilt. Ich danke dem Herrn Fahrnberger, weil er sehr viele Klicks generiert hat. Dieses Bashing ist fantastisch, weil es uns viele Leser und vor allem Registrierungen gebracht hat. Scheinbar brauchen wir das öfter (lacht).

Haben Sie jemals mit Eva Dichand über die Finanzierung von f+f gesprochen?

Nein, aber mit Christoph Dichand. Wenn schon ein Gerücht, dann bitte richtig. Eines vorweg: Er ist nicht beteiligt, und die „Krone“ auch nicht, aber es hat Gespräche gegeben. Ich hatte ihn kontaktiert, weil ich eine Kooperation mit der Krone wollte, so wie wir sie auch mit „Vienna Online“ oder „ATV“ haben. Beim Gespräch zeigte sich, dass er an einer Beteiligung der Krone Interesse hätte, was wir als große Ehre empfanden. Wir haben jetzt eine „normale“ Kooperation, ohne Beteiligung, und haben uns schließlich für einen Investor entschieden, Günter Kerbler, der uns unter anderem zusagte, dass er sich nicht in das Tagesgeschäft einmischt. Uns ist Unabhängigkeit sehr wichtig, ich will einfach nicht, dass mir da Leute hineinreden. Jeder der mich kennt, weiß: Ich bin stur und kein einfacher Mensch.

Welche Schlagzeile über f+f wollen Sie im Jahre 2020 lesen?

Fisch + Fleisch: Aus einer kleinen… (lacht). Eine Headline zu finden, ist schwierig, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Aber es geht uns darum, viel Platz für viele Anliegen zu schaffen. Bei uns soll man alles sagen dürfen, was einen beschäftigt. Vielleicht eine Schlagzeile in etwa „Neue Maßstäbe für Offenheit und Toleranz“. Wäre schön, wenn es gelingt. Wir reden da natürlich immer innerhalb des rechtlich Zulässigen, aber warum soll es nicht okay sein, wenn jemand mit seinen Pflanzen spricht? Muss ich dem gleich sagen, dass er ein Trottel ist? Menschen sollten erkennen, dass jeder seine ganz persönlichen Wahrheiten hat.

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Bei Ihnen, ja wirklich.

Ja, gerne.

Kommt noch, auf fisch + fleisch (lacht).

Vielen Dank für das Gespräch!

Nina Horaczek: Rechts neben der FPÖ ist das Verbotsgesetz

Ihr gemeinsam mit Claudia Reiterer verfasstes Buch über Heinz-Christian Strache ist der wohl detaillierteste Einblick in die Welt des aktuell erfolgreichsten österreichischen Politikers des Dritten Lagers. Nina Horaczek ist Journalistin bei der Wiener Stadtzeitung „Falter“ und publiziert seit vielen Jahren zu den Themen Rechtsextremismus, Flüchtlingspolitik und Stereotypenforschung. Im Interview spricht sie über die in ihren Augen angestrebte Apartheidpolitik der FPÖ, den kometenhaften Aufstieg unter Strache und warum mit den Freiheitlichen kein Staat zu machen ist.

Wäre Österreich ohne die FPÖ im Parlament ein schönerer Ort?

(lacht) Wo wäre die FPÖ wohl, wenn sie nicht im Parlament wäre? Eine außerparlamentarische Opposition? Aber im Ernst, ich würde den Fokus nicht allein auf die FPÖ legen. Man kann nicht einfach sagen die Partei ist weg und Österreich ist perfekt. Die Frage ist eher, warum hat Österreich eine in meinen Augen rechtsextreme Partei, die ein Viertel der Stimmen bei Wahlen verbuchen kann. Ich glaube, Österreich wäre ein schönerer Ort, wenn es gelingen würde, dass die Menschen mehr Offenheit gegenüber Fremden und Anderen zeigen. Dieses Problem lässt sich aber nicht auf die FPÖ reduzieren.

„Ich habe nichts gegen Ausländer und Ausländerinnen, aber…“ – Kann diesem Sammelsurium an Vorurteilen mit Fakten gekontert werden?

Das erste Buch in diese Richtung, an dem ich mitgewirkt habe, hieß „Handbuch gegen Vorurteile“. Die Reaktionen waren sehr spannend. Viele meinten, dass sie die Hintergründe der unterschiedlichen Vorurteile nicht kannten. Da war es wieder: der Moslem oder der Ausländer, der seine Frau geprügelt hat. Mithilfe von diesem Buch verstanden aber sehr viele Menschen, wie mit derartigen Stereotypen umgegangen werden kann.  Einem Hardcore-Rassisten braucht man so ein Buch aber nicht hinlegen. Das neue Buch, das bald erscheint, ist für junge, weltoffene Leute und da glaub ich schon, dass ihnen objektive Fakten helfen, Vorurteilen zu begegnen. Als ich einmal einen Vortrag über die FPÖ hielt und im Publikum viele Berufsschüler saßen, kam einer nachher zu mir und bedankte sich, weil er sich so einsam fühlte als einziger Nicht-FPÖler in seiner Schule. Er meinte, dass ihm in Gesprächen oftmals die Argumente fehlen würden. Genau diese Leute brauchen eine Grundlage, mit der sie Diskussionen führen können. Das ist meine Hoffnung.

Zurück zur FPÖ: Warum bezeichnen Sie die Partei als rechtsextrem?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die FPÖ möchte den Sozialstaat reformieren, indem sie zwei Sozialversicherungen etabliert, eine für die Ausländer und eine für die Inländer. Hat der Inländer ein Hüftproblem, erhält er auf Kosten der Allgemeinheit ein künstliches Gelenk sowie die bestmögliche Therapie. Hat der Ausländer, der sein ganzes Leben hier gearbeitet hat, dasselbe Problem, bekommt er ein Aspirin und einen feuchten Händedruck. Das ist für mich eine klassische Apartheidpolitik, das ist Rassismus. Ein wesentlicher Punkt der FPÖ ist das regelmäßige Anstreifen am Nationalsozialismus. Auch wenn man sagen muss, dass bei einem Verstoß gegen das Verbotsgesetz mittlerweile der Parteiausschluss folgt. Aber es bleibt die einzige Partei Österreichs, der ein solcher Verstoß andauernd passiert. Und die FPÖ ist ganz klar islamfeindlich: Das fängt an bei den Mohammed-Beschimpfungen durch die Nationalratsabgeordnete Susanne Winter, über Daham statt Islam bis hin zu diesem Computerspiel bei den steirischen Landtagswahlen 2010. Das ist kein Populismus, das ist rechtsextrem. In Deutschland etwa werden solche Spiele von der NPD verbreitet und die ist ganz klar draußen aus der Politik.

Warum erhält die FPÖ trotz der Skandale und der blamablen Ausführung von Regierungsverantwortungen immer wieder einen großen Anteil der Wähler- und Wählerinnenstimmen?

Zum einen schafft es die FPÖ sich immer wieder als die „Anderen“ darzustellen. Sie sind gegen ihn, weil er für euch ist. Diesen Spruch von Jörg Haider benutzte später auch Strache. Die FPÖ stellt sich stets erfolgreich als Opfer dar. Den anderen Parteien hingegen gelingt es nicht, die Freiheitlichen zu entzaubern. Interessant ist, dass die FPÖ zudem Grenzen in der politischen Debatte verschiebt. Das 1993 initiierte Anti-Ausländer-Volksbegehren würde im Jahre 2015 wohl kaum hunderttausende Menschen auf die Straße bringen, weil solche Forderungen niemanden mehr schockieren. Heute gilt man nicht als Rassist, wenn man sagt, es sind zu viele Ausländerkinder in den Schulen. In den 90-er Jahren war so etwas undenkbar.

Nina Horaczek im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Rechte Rülpser sind heute aber auch von Rot, Schwarz und Grün zu hören. Sind diese Parteien gezwungen, die Früchte der FPÖ zu ernten?

Na ja, da nimmt man diese Parteien ziemlich aus der Pflicht. Das haben sie sich schon selbst zuzuschreiben. Es wäre naiv zu glauben, dass etwa das Islamgesetz dazu führt, dass ein Wähler von der FPÖ zur SPÖ oder zur ÖVP wechselt. Keine Ahnung, was die zwei Parteien da geritten hat. Ich habe mir vor kurzem angesehen, wie dieses Feindbild Islam bei der FPÖ entstanden ist. Sieht man sich etwa die Presseaussendungen rund um die Terroranschläge vom 11. September 2001 an, ist auffallend, dass es weder davor noch danach sehr viele FPÖ-Presseaussendungen zu Islam und Islamismus gab. Erst als 2005 die Partei von Strache übernommen wurde kam es zu einer massiven Thematisierung. Die anderen Parteien überließen der FPÖ das Feld und haben sich auch nicht dagegen gestellt.

Hängt das damit zusammen, dass Jörg Haider ein scheinbar sehr gutes Verhältnis zu arabischen Despoten hatte?

Wenn man es sehr provokant sagt, dann ist der Haider zu den arabischen Diktatoren wie Gaddafi und Hussein gefahren und Strache reist eben nach Israel, weil er das Land plötzlich als Bollwerk gegen die Islamisierung des Abendlandes entdeckt.

Hätte Jörg Haider das BZÖ ebenfalls auf einen islamfeindlichen Diskurs gelenkt?

Wenn es Stimmen bringt, sofort. In Kärnten etwa hatte er einen unbescholtenen muslimischen Imam als Hassprediger gebrandmarkt und ihm die Staatsbürgerschaft verwehrt.

Man hatte gegen Ende den Eindruck das Staatsmännische steht vor dem Populismus.

Gegen Ende von Jörg Haider hat man gar nicht mehr gewusst, was er wirklich will. Ich glaube, dass er selbst nicht mehr wirklich wusste, was er heute sagt und morgen tut.

Was bezweckt Stefan Petzner mit seinem neuen Haider-Buch?

Da geht es um ein paar Leute, die sich mithilfe von sozialen Medien wichtigmachen wollen. Natürlich verstehe ich die Familie, dass sie sich noch immer daran klammert und wissen möchte, was in Haiders Todesnacht genau passiert ist. Ich finde es aber grauslich, dass sich da bestimmte Medien daran beteiligen. Warum wird die Familie nicht einfach in Ruhe gelassen?

Hat der Tod von Jörg Haider das Ende vom BZÖ eingeläutet?

Ja, das war klar. Da waren nur noch die paar Glücksritter übrig, die sich die letzten Brotkrümel geholt haben. Ursula Haubner wollte sicherlich das Erbe ihres Bruders retten, aber die anderen haben ihre Periode im Nationalrat abgesessen und sich dann nach Alternativen umgesehen.

Nina Horaczek im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Gibt es heute neben der FPÖ noch Platz im Dritten Lager?

Ich wüsste nicht, wer Strache den Rang ablaufen könnte. Das hätte vielleicht noch ein Uwe Scheuch geschafft, aber der ist weg vom Fenster. Ich sehe da keinen Platz rechts neben der FPÖ, wobei rechts neben der FPÖ ist eh schon die Wand. Oder das Verbotsgesetz.

Und PEGIDA?

Deutschland hat PEGIDA, wir haben die FPÖ. Ich weiß auch nicht, was den Ewald Stadler reitet da mitzumachen. Stadler war sicherlich als Dobermann von Haider eine Kampfmaschine im Parlament. Aber dass er jetzt eine Volksbewegung aus dem Boden stampft, das glaube ich nicht. Vielleicht gehen ein paar sektoide mehr Christen auf die Straßen, aber eine derartige Strahlkraft traue ich ihm nicht zu. Aber wer weiß … (lacht).

In Ihrem Strache-Buch heißt ein Kapitel „Zuerst Bürgermeister, dann Kanzler“. Wird sich eines von beiden jemals ausgehen?

Bei den kommenden Wien-Wahlen sicher nicht. Vize-Kanzler hingegen wird schon möglich sein. Ich erinnere mich an das Jahr 2005, wo sowohl die Journalisten, als auch die Meinungsforscher dem Strache ein Potential von drei Prozent vorhersagten. Ich sehe ein wahnsinniges Vakuum der ehemaligen Großparteien und wenn Strache nichts entgegengesetzt wird, wird einiges möglich sein. Diesmal wird sich der Bürgermeistertitel in Wien aber nicht ausgehen, ich kenne auch seine Pläne für die Zeit nach der Wahl nicht. Dieser kometenhafte Aufstieg der FPÖ unter Strache war nur möglich, weil die Partei parterre war, als er sie übernommen hatte. Von drei Prozent hüpft es sich leichter hoch als von 27,5 Prozent. Was ich ganz klar sehe, ist, dass diese Isolierung der Partei für eine mögliche Koalition wie Windbäckerei dahinbröckelt. Und zwar nicht nur bei der ÖVP, sondern auch bei der SPÖ. Auf Gemeindeebene lassen sich die Sozialdemokraten ja bereits von jedem dahergelaufenen Blauen zum Bürgermeister wählen. Aber was im Burgendland und in der Steiermark anklingt…

… aber ist diese Isolation sinnvoll und spielt man damit der FPÖ nicht in die Hände?

Man muss auf die Inhalte eingehen und die Partei nicht einfach nur dämonisieren. Das wäre ein Fehler. Die FPÖ ist keine Partei wie alle anderen und das muss man auch betonen. Die Freiheitlichen haben es geschafft, den Hyposkandal so darzustellen, als ob dieser gar nichts mit der Partei zu tun hatte. Strache saß 2003 bereits im Bundesparteivorstand und die Partei baut auf Haider auf, der die Republik in diese ganze Scheiße gebracht hat. Und bis auf die Grünen haben die anderen Parteien ihn auch machen lassen. Das macht es für sie natürlich nicht leichter. Der FPÖ wird zu wenig auf sachlicher Ebene begegnet. Mit der FPÖ ist kein Staat zu machen und das kann man auch einfach belegen.

Nina Horaczek im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Gibt es aktuell regierungsfähige Minister und Ministerinnen der FPÖ?

Fairerweise sollte gesagt werden, dass es für jede Oppositionspartei sehr schwer ist, diesen Regierungsapparat, den man nicht gut genug kennt, zu übernehmen. Das gilt natürlich auch etwa für die Grünen. Was ich bei Strache sehr auffällig finde ist, dass er nach zehn Jahren Parteiführung keine wirkliche Breite in der FPÖ geschafft hat. Ich sehe aktuell kein ministrables Personal. Aber Kreiskys haben die anderen Parteien auch keinen, das aktuelle Niveau ist generell sehr tief. Es gibt auch in der FPÖ strategisch denkende Personen, die sicherlich nicht jeden Fehler von 2000 wiederholen werden. Aber es wird sicher brachial werden, wenn die FPÖ in die Regierung kommt. Dann ist natürlich noch abzuwarten, wie der Bundespräsident bei Kandidaten wie Gudenus reagieren würde. Aber das will ich mir ehrlich gesagt auch nicht vorstellen (lacht).

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Schwierig, die großen Politiker nicht, die reden nicht offen. Was mir wirklich Spaß machen würde, wäre ein Abend mit einem Ex-Politiker wie Schröder oder irgendwann später einmal Merkel oder Obama. Einfach off the record zu hören, wie es wirklich zugeht. Wie Sachen wirklich passieren. Das wäre sehr spannend.

Vielen Dank für das Gespräch!

Van der Bellen: Die SPÖ betrachtet Wien als ihren Besitz

Alexander Van der Bellen lenkte elf Jahre lang die Geschicke der Grünen in Österreich. Er übernahm die Partei bei einem Stimmenanteil von fünf Prozent, den er innerhalb von neun Jahren verdoppeln konnte. Seine politische Leidenschaft gilt insbesondere der Energie- und Bildungspolitik. Im Interview spricht er über die Fehler der Grünen, seine Kritik am europäischen Umgang mit Russland und darüber, was er über die Debatte einer möglichen Kandidatur bei der Bundespräsidentschaftswahl 2016 denkt.

Sie treten bei der kommenden Wien-Wahl nicht mehr an. Haben Sie genug von der Politik?

Naja, genug von der Politik? Das klingt so negativ. Ich lernte die lokale Politik kennen, fand sie interessant und habe mein Bestes gegeben. Vor allem im Hinblick auf die Hochschulen in Wien.

Wie bewerten Sie rückblickend die erste rot-grüne Regierung in Wien?

Für mich ist die Mariahilferstraße das Vorzeigeprojekt schlechthin. Nicht nur weil ich dort unmittelbarer Anrainer bin, sondern generell. Ich finde das muss man schon erleben, wenn man die Einkaufsstraße entlang spaziert und dieses völlig neue Ambiente spürt. Es ist entspannter und man betrachtet in Ruhe die historischen Fassaden der Häuser. Obwohl ich bereits hundertmal vorbeigegangen bin, entdeckte ich erst kürzlich ein Gebäudeportal  der „Zentralsparkasse der Stadt Wien“. Eigentlich sollte dieses unter Denkmalschutz stehen, denn die Zentralsparkasse gibt es ja schon lange nicht mehr. Solche Kleinigkeiten gefallen mir.

Sind bei diesem Projekt Fehler passiert?

Na ja, letztlich ist die Befragung ja positiv ausgegangen. Diese sogenannte Abstimmung, die rein rechtlich gesehen eine Umfrage war, wurde de facto zu einer Abstimmung über die Stadtpolitik. Erst in letzter Sekunde konnte die Mehrheit der Bevölkerung von der Neugestaltung überzeugt werden. Und das vor allem dank der intensiven Hausbesuche. Selbst die, die davor noch dagegen waren, merkten, dass die Grünen mit Leidenschaft für das Projekt kämpften. Das spielte dann doch noch eine gewisse Rolle.

Fehlt diese Bürgernähe in der heutigen Politik?

Ich tue mir sehr schwer in der Beurteilung. In diesem konkreten Fall war es sehr wichtig und eventuell auch entscheidend. Ich bin diesbezüglich etwas zurückhaltend, weil Hausbesuche nicht meins sind (lacht). Dazu ist mir die Wahrung von Distanz zu wichtig.

Alexander Van der Bellen im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Wie schwer regiert man mit jemandem, der einen nicht mag? Die SPÖ wollte bestimmt keine Koalition…

Die SPÖ tut sich schwer damit, nach 100 Jahren absoluter Mehrheit endlich zu registrieren, dass diese Zeiten ein für alle Mal vorbei sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPÖ bei den kommenden Wahlen die Absolute zurückgewinnen wird. Wahlrecht hin, Wahlrecht her. Und das merkt man auf Schritt und Tritt. Die SPÖ betrachtet Wien als ihren Besitz und alles, was das irgendwie in Frage stellt, ist fast schon Blasphemie in den Augen der Sozialdemokraten.

Wie gehen die Grünen bei einer möglichen Neuauflage der Koalition mit der Wahlrechtsreform um?

Da spielen mehrere Dinge eine Rolle. Auf grüner Seite sind einige Fehler passiert. Erstens, man unterschreibt grundsätzlich keinen Notariatsakt, das habe ich in der Politik gelernt (lacht). Zweitens verhandelt man ein derart heikles Thema, wo ein Partner, in diesem Fall die SPÖ, etwas zu verlieren hat am Anfang der Legislaturperiode und nicht kurz vor dem Ende. Ich persönlich finde das Wahlrecht nicht so furchtbar. Was mich viel mehr irritiert, und das ist völlig außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung, ist, dass die SPÖ in allen Wiener Ausschüssen die absolute Mehrheit hat. Und das obwohl sie im Plenum des Gemeinderats bzw. des Landtags natürlich nicht die absolute Mehrheit hat. Ich komme aus dem Parlament und da wäre so etwas undenkbar. Dort werden immer die Verhältnisse des Plenums abgebildet. Nicht so in Wien. Als ich eines Tages noch ein wenig schläfrig im Europaausschuss saß, fiel mir auf, dass ich ganz alleine war. Die Grünen hatten genau einen Sitz gegenüber acht SPÖlern. Die Mehrheitsverhältnisse sind aber nicht 8:1. Und somit kann die SPÖ einen Beschluss des Plenums problemlos im Ausschuss blockieren. Im Nationalrat wäre das undenkbar.

Die Grünen sind in so vielen Landesregierungen wie nie zuvor. Linke Proteststimmen oder ist Österreich “grüner“ geworden?

Das Linksetikett im Zusammenhang mit den Grünen ist irreführend. Ein italienischer Philosoph bezeichnete die grüne Ideologie als transversal, also quer durch. Gesellschafts- und sicherheitspolitisch sicherlich links, aber der Kern, nämlich Ökologie und Umweltschutz, hat etwas konservatives. Es soll etwas bewahrt werden. Auf katholischer Seite heißt es Bewahrung der Schöpfung und wir nennen es trocken Umweltschutz. Da kommt man mit dem Links-Rechts-Schema nicht wirklich weiter. Auf Länderebene besteht zudem ein Unterschied zwischen den linkeren Grünen in Wien und denen in den Bundesländern. Im Übrigen haben sie einfach gut und professionell gearbeitet und wurden in den Wahlen und dann bei den Koalitionsverhandlungen dafür belohnt.

Was unterscheidet die Grünen von heute von denen vor 20 Jahren?

Vor 20 Jahren, das war im Jahre 1995. Ein Krisenjahr für die Grüne Bewegung, wir sind bei den Nationalratswahlen fast aus dem Parlament geflogen. Ich habe den Einzug gerade noch um ein paar Millimeter geschafft. Es gab damals noch Anfangsschwierigkeiten wie unklare Strukturen, heute sind die Grünen viel professioneller. Etwa in der Medienarbeit und in der Verwendung genauer Zielgruppenanalysen. Das alles ist auf den ersten Blick nicht entscheidend, aber das sind notwendige Bedingungen für das Überleben einer Partei.

Alexander Van der Bellen im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Warum lässt sich eine Partei wie die Grünen derart von der Integrationsdebatte vereinnahmen? Stichwort Efgani Dönmez.

Ich sehe das nicht so. Effi Dönmez provoziert gern, auch die eigenen Leute. Aber man sollte auch fragen, was er damit bezweckt. Oft geht es ihm um die Blauäugigkeit, die es auf grüner Seite gegeben hat. Ich kann mich noch erinnern, das war vor ungefähr 20 Jahren, als ein FPÖ-Politiker im Nationalrat erwähnte, dass es in Wien Pflichtschulen mit einem 60-70%igen Anteil nicht-deutschsprachiger Schülerinnen und Schülern gäbe. Bei uns, einem damals sehr kleinen Klub, war die Empörung groß. Aber ich wusste, weil meine Frau damals Volksschullehrerin in Ottakring war, dass dieser Anteil in ihrer Klasse bei über 90% lag. Und das ist nun mal eine Herausforderung für die Lehrerin, die Direktion und den Bezirksinspektor. Triviale Fragen tauchten schon damals auf: Was ist mit dem muslimischen Mädchen im Schwimmunterricht und ihren konservativen Eltern? Du musst mit den Leuten reden und ihnen vermitteln, dass alle Kinder gleichwertig sind und ihnen Chancen ermöglicht werden müssen. Die meisten verstehen das dann auch. Diese Sachen müssen wahrgenommen werden und können nicht einfach negiert werden.

Kommt man mit Beleidigungen wie “Kameltreiber“ weiter?

Nein, da haben Sie natürlich Recht. Das war ein Fehlgriff der Sonderklasse.

Stichwort Wr. Neustadt: Haben Sie die Hysterie um die Wahl des neuen Bürgermeisters nachvollziehen können?

Ich denke, dabei handelt es sich um eine sehr lokale Geschichte. Wr. Neustadt war über Jahrzehnte hinweg in roter Hand. Der neue ÖVP-Bürgermeister ist aber ein Intimus von Landeshauptmann Pröll und da muss man sich schon überlegen, ob man so jemanden unterstützt. Das ist kein schlichter Machtwechsel, sondern kann als Übergang von der feudalen SPÖ zur feudalen ÖVP interpretiert werden. Das einen das aufregt, jenseits der Diskussion rund um die FPÖ, ist verständlich. Ich weiß nicht, wie ich als Wr. Neustädter reagiert hätte. Als Außenstehender ist das schwer zu beurteilen. Ich kann schon verstehen, dass man einen Machtwechsel möchte, aber muss es genau ein solcher sein?

Von der Innenpolitik hinaus in die Welt: Sollte Österreich eine gewichtigere außenpolitische Rolle wie zu Zeiten von Bruno Kreisky übernehmen?

Ja, sollte es. Aber das ist offenbar seit mehr als 20 Jahren nicht das Ziel der österreichischen Politik. Das sieht man nicht zuletzt am immer kleiner werdenden Budget des Außenministeriums, besonders unter Minister Spindelegger. Wenn Botschaften und Konsulate geschlossen werden und das Personal im Ministerium gekürzt wird, dann wird es umso schwieriger, außenpolitischen Einfluss zu entfalten. Es war auch ein Fehler die UN-Soldaten des Bundesheers nach mehr als 35 Jahren praktisch über Nacht vom Golan abzuziehen.

Schiebt Österreich diese Agenden in Richtung Brüssel?

Österreich ist schon sehr viel provinzieller geworden was die Außenpolitik betrifft.

Bringt Außenminister Kurz eine Veränderung?

Er hat eine gute Presse und er hat auch alle überrascht. Jemand, der keine 30 ist, sich ohne große Fehler auf diesem so genannten Parkett bewegt, das ist schon eine sehr gute Leistung. Außenpolitik erfordert normalerweise jahrelanges Engagement. Peter Schieder von der SPÖ war hier ein Musterbeispiel. Von Anfang an hat er internationale Kontakte aufgebaut und gepflegt. Das geht leider zunehmend verloren in Österreich.

Alexander Van der Bellen im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Zuerst Georgien, dann Ukraine: Wie bewerten Sie den Umgang Europas mit Russland?

Ich glaube, wenn ich mich öffentlich dazu geäußert hätte, wäre ich als Putin-Versteher diffamiert worden. Ich finde es skandalös, wie nahezu die gesamte europäische Presse, Österreich ist da keine Ausnahme, nicht einmal versucht russische Positionen zu verstehen. Die Krim war nie ukrainisch, außer in den letzten 50 Jahren. Chruschtschow hat die Halbinsel aus unerfindlichen Gründen damals der Ukraine angegliedert. Wenn es eine indigene Bevölkerung dort gibt, dann sind das die Tataren, sicher nicht die Ukrainer. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die militärisch-strategische Position Russlands. Als 1989 der eiserne Vorhang fiel und die Wiedervereinigung Deutschlands bevorstand, ist Russland zugesichert worden, dass die NATO-Grenze nicht weiter nach Osten verschoben wird. Das geht aus US-Quellen hervor. Die Russen haben aber das Pech, dass das niemals schriftlich vereinbart wurde. Und was ist passiert? Die NATO-Ostgrenze verläuft heute direkt an den Grenzen zu Russland. Ich kann schon verstehen, dass das ein Stirnrunzeln in Russland hervorruft. Wenn Sie 200 Jahre zurückgehen, woher kamen alle Invasoren? Alle durch die Ukraine. Deswegen bin ich sehr erbost, wenn gesagt wird, dass von der Ukraine keine militärische Gefahr ausgeht. Ja natürlich, von der Ukraine selbst nicht, aber dass es sich um ein strategisches Vorfeld Russlands handelt, ist doch klar. Wie haben die USA in den letzten 100 Jahren reagiert, wenn vor ihrer Haustür eine potenzielle Gefahr entstand? Die haben sich auch nicht um das Völkerrecht gekümmert. Da wird mit zweierlei Maß gemessen. Ungeachtet all dieser Faktoren ist das Ukraineproblem lösbar. Aber es scheint auf beiden Seiten keinen guten Willen zu geben.

Gehen wir noch ein weniger südlicher auf der Landkarte. Hatten Sie jemals den Eindruck, dass der Arabische Frühling zu einer echten Demokratisierung im Nahen Osten führt?

Ich war nie euphorisch, muss ich gestehen. Und das aus einem einfachen Grund: Was sind wesentliche Elemente einer funktionierenden Demokratie? Es geht nicht darum, dass die Mehrheit entscheidet. Bevor man die Mehrheit entscheiden lässt, muss klar sein, worüber sie nicht entscheiden darf. Wenn ich in einem Land wie dem Irak plötzlich Wahlen ausschreibe und mir keine Gedanken über die unterschiedlichen Gruppierungen mache, dann wird Schlimmes passieren. Die Mehrheit wird die Minderheit unterdrücken. Man muss kein Prophet sein, um ein solches Szenario vorherzusagen. Wir hatten im Nationalratsklub lange vor dem Arabischen Frühling die Nahostexpertin Karin Kneissl zu Besuch. Sie sagte damals etwas sehr bemerkenswertes: Viel wichtiger als Demokratie, ist die Einführung von rechtsstaatlichen Mindeststandards. Das heißt etwa, dass nicht der Onkel verhaftet wird, wenn gegen den Neffen etwas vorliegt. Das ist ausschlaggebender als alles andere. Ich gebe aber zu, man steht oft vor beschissenen Entscheidungen. Ich war für die Intervention der NATO in Libyen, weil glaubhafte Belege vorlagen, dass Gaddafi die Stadt Bengasi mit tausenden Toten zerstört hätte. Aber das Bombardement hat hundert Jahre alte Stammeskulturen neu aufleben lassen. Wenn ich schon meine Fehler aufzähle: Ich war auch für die Waffenlieferungen an die afghanisch-indigene Bevölkerung nach der sowjetischen Invasion.

Das sehen Sie als Fehler?

Man hätte sich einige tausende Tote erspart. Hat sich irgendetwas verändert? Man ist die sowjetische Besatzung losgeworden und die Taliban sind an die Macht gekommen. Hmm, seufz.

Noch einmal zurück nach Österreich: Welche politische Schlagzeile wollen Sie im Superwahljahr 2018 lesen?

Es sollten ein paar Baustellen beseitigt sein. Von der Hypo-Alpe-Adria bis zur Durchsetzung von Energieeffizienz und erneuerbaren Energien. Dass Österreich den Klimawandel nicht ernst nimmt, das geht mir schwer auf die Nerven. Und dass das rot-schwarze Kartell endlich ein Ende hat, das war der einzige Punkt, bei dem ich mit Jörg Haider einer Meinung war. Es ist erstaunlich, wie langsam sich Österreich verändert.

Alexander Van der Bellen im Gespräch
Bild: Christoph Hopf

Nervt es Sie, wenn Sie ständig nach einer möglichen Präsidentschafts-Kandidatur gefragt werden?

Ja, schon. Ich habe dazu alles gesagt, was zu sagen ist. Die Wahlen finden erst in einem Jahr statt und die Kandidaten stellen sich üblicherweise zum Jahreswechsel vor. Warum soll man zu Amtszeiten von Heinz Fischer diese Debatte lostreten?

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Ich möchte gerne mit Ferdinand Lacina auf einen Kaffee gehen, um mir die Geschichte von Professor Borodajkewycz erzählen zu lassen. Nach 1945 saßen an den Universitäten viele politisch Neutrale, Stockkonservative, Reaktionäre und Altnazis. Aber keine Juden und praktisch keine Sozialdemokraten. Und dieser Borodajkewycz war ein Nazi und Antisemit, der an der Hochschule für Welthandel unterrichtete. Ferdinand Lacina studierte dort und stenographierte gemeinsam mit ein, zwei anderen bei den Vorlesungen. Das hat er dann publik gemacht. Daraufhin kam es zu Demonstrationen in Wien, bei denen ein Pensionist, der gegen Borodajkewycz demonstriert hat, zu Tode gekommen ist. Das war Ernst Kirchweger. Lacina als Augenzeugen dieser Geschichte würde ich sehr gerne zuhören.

Vielen Dank für das Gespräch!

Sonja Ablinger: Die SPÖ vergisst ihre frauenpolitische Pflicht

Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und kritisiert offen die Missstände der SPÖ: Sonja Ablinger saß acht Jahre lang im österreichischen Parlament und verschrieb sich bereits in ihrer frühen Jugend dem Kampf um Gleichstellung und Gleichberechtigung. Im Interview spricht sie über das vergessene Erbe von Johanna Dohnal, eine beunruhigende SPÖ-Frauenpolitik, Frauenhass in der Gesellschaft und das leidige Kopftuch.

In einem Interview mit dem Onlineportal „turi2“ fragte ein Journalist die neue Gala-Chefredakteurin, ob sie sich hochgeschlafen hätte. Warum können solche Fragen im Jahre 2015 gestellt werden?

Ich glaube, dass das zum Teil schlimmer wird. Wir merken seit geraumer Zeit, dass es einen wachsenden Antifeminismus gibt. Das ist in Zeiten von Verteilungskämpfen nicht überraschend. Mittlerweile finden sich dieser Frauenhass und diese Platzzuweisungen an Frauen auch in den Mainstream-Medien. Bei den mehrheitlich männlich besetzten Chefredaktionen findet vermutlich selten ein feministischer Diskurs statt. Wenn wir uns etwa das jüngste Cover des „profil“ mit der Überschrift „Brauchen Frauen eine strenge Hand?“ ansehen. Das wird dann mit der Freiheit der Provokation gerechtfertigt. Ich glaube nicht, dass man „Brauchen Juden Diskriminierung?“ titeln würde.

Kurz zuvor gab es ein ähnliches Cover mit dem Titel „Was den Islam gefährlich macht“…

Genau, mit den Muslimen war es ähnlich. Dieses Treten nach unten möchte ich fast sagen. Ich beobachte  seit Jahren eine zunehmende negative Haltung à la „was wollen die Frauen noch“. Was völlig absurd ist, weil die Ungleichheiten wieder stärker gewachsen sind. Die Lohnunterschiede gleichen sich nicht aus, die Beschäftigungsformen der Frauen werden nicht besser und auch bei der Aufteilung von privatem und beruflichem Leben hat sich kaum etwas geändert. Gleichzeitig beginnt eine Diskussion, die den Frauen und Feministinnen die Legitimation entziehen will. Zudem entsteht eine gewisse Brutalität, die etwa in den Onlineforen und in den sozialen Medien zu spüren ist. Bei frauenpolitisch relevanten Themen liest man Kommentare, die voller Hass sind und damit viele Frauen aus den Foren vertreiben, die sich des Themas annehmen.

Ein weiteres Beispiel ist die Anti-Sexismus-Kampagne #aufschrei, die sich mit einer stern-Autorin solidarisierte, weil sie sich gegen das sexistische Verhalten eines Politikers öffentlich äußerte. Für ihre Offenheit wurde sie massiv angefeindet. Die Hashtag-Kampagne brachte viele Frauen dazu, über ihre Begegnungen mit Alltagssexismus von Erniedrigungen bis hin zu sexuellen Belästigungen zu berichten. Zugleich gab es eine Diskussion, was denn dieser Aufschrei soll, weil das ja alles nur ein Spaß und eine Form des Flirtens sei. Da wird spürbar, wie sehr die grundsätzliche Gleichheit von Frauen und Männern keine Selbstverständlichkeit ist.

Bild: Ines Mahmoud
Bild: Ines Mahmoud

Wo liegen die Gründe dafür?

Ich denke, es hat auch mit dem neoliberalen Strukturumbau in Richtung Wettbewerbsgesellschaft zu tun. Das sollte nicht unterschätzt werden. Wenn der Wohlfahrtsstaat zurückgebaut wird, ist es für viele schwieriger ihr Leben zu sichern. Parallel dazu tritt die Frauenbewegung immer mehr ins Hintertreffen. Ich selbst bin politisch in den 80-er Jahren aufgewachsen, also eine klassische Johanna Dohnal Feministin. Damals gab es viele öffentliche Debatten, wie etwa über das Gewaltschutzgesetz, die die Meinungen über Frauenrechte beeinflusst haben. Wenn so etwas nicht mehr stattfindet, dann erhalten die Stimmen eine größere Bühne, die Frauenrechte nicht wirklich für relevant halten.

Das ist eine sehr pessimistische Situationsanalyse. Sehen Sie in Europa ein Licht am Ende des Tunnels?

Wie so oft sehe ich das in den skandinavischen Ländern. Dort gibt es eine egalitärere Frauenpolitik, da es seit jeher eine Selbstverständlichkeit ist, dass Frauen am Arbeitsleben teilnehmen. Das bedeutet, dass der Staat die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung stellt. Die Frage von Beruf und Familie ist für Frauen und Männer gleichermaßen relevant. Diese Länder sind uns gut 30 Jahre voraus, weil sie sich viel früher um Rechtsansprüche bemüht haben. Frauen haben viel mehr Möglichkeiten, um ökonomisch unabhängig zu leben. Das ist hierzulande nicht der Fall. Es muss gewährleistet sein, dass Frauen ein Recht auf eine eigenständige Existenzsicherung haben. In Österreich können sie von ihrem Einkommen kaum unabhängig leben.

Erinnern Sie sich an einen Schlüsselmoment, der für ihre feministische Lebenseinstellung maßgeblich war?

Meine Einstellung hat sich dadurch entwickelt, dass ich relativ früh in die sozialdemokratische Schülerorganisation kam, wo ich mich mit Feminismus und Frauenpolitik auseinandersetzte. Tatsächlich gab es aber auch den einen Moment: Als ich mit 14 Jahren auf meine erste große Friedensdemonstration ging, lauschte ich einer Rede von Johanna Dohnal. Sie konnte mir so eindringlich erklären, dass die Ängste, die ich damals hatte – vor allem die eines Nuklearkriegs – nicht naiv sind, sondern politisch bekämpft werden können. Das hat mich damals sehr berührt. Johanna Dohnal konnte so gut erklären, warum so viele Probleme mit den gegebenen Strukturen zu tun haben. Wie etwa die Behandlung von Mädchen in der Schule, die Anmache auf der Straße oder das dominante Auftreten von Männern in der Partei. Das war alles sehr prägend für mich.

Wird die heutige SPÖ dem Erbe von Johanna Dohnal gerecht?

Nein. Ein jüngstes Beispiel war sicherlich die Debatte um die Quotenregelung. Die Quote ist mehr als eine Prozentrechnung. Der Umgang der Partei damit ist ein Zeichen dafür, dass das wofür Johanna kämpfte an Bedeutung verloren hat. Ich habe generell das Gefühl, dass das Interesse an Gleichstellungspolitik in der SPÖ schwindet. Es war ein großer Fehler das einst eigenständige Frauenministerium in das Bildungsministerium einzugliedern. Damit geht es verloren und das sieht man auch, weil man immer weniger vom Frauenministerium hört.

Bild: Ines Mahmoud
Bild: Ines Mahmoud

Hat das mit dem neoliberalen Wandel zu tun, der auch die Sozialdemokratie beeinflusst?

Das Einschlagen dieses so genannten dritten Weges, also das nur leichte Abfedern des Sozialabbaus, hat viele Grundpfeiler der Sozialdemokratie gelockert. Und darunter fällt auch die Frauenpolitik. Eva Kreisky sagte einst, dass der Wohlfahrtsstaat immer denjenigen zur Seite steht, die wenige Chancen haben. Dadurch, dass dieser immer mehr unter Druck kam, ist die Eigenständigkeit von Frauen schwieriger geworden. Ein Beispiel aus den 80-er Jahren: Ein wesentlicher Punkt war, dass alleinerziehende Frauen über staatliche Unterstützungen eigenständig leben konnten. Da gab es neben dem Karenzgeld auch weitere Zuschüsse. Diese Sozialleistungen sind Schritt für Schritt gekürzt worden. Da hat die Sozialdemokratie mit  der Begründung „wir müssen effektiver und moderner sein“ am Sozialstaat rück- und abgebaut. Nicht zu unterschätzen ist auch die schwarz-blaue Regierung, die Frauenpolitik durch Familienpolitik ersetzte und als höchstes Symbol einen Mann als Frauenminister einsetzte. Zudem wurden Frauenpensionen massiv gekürzt. Nach dieser politischen Wende  hat die SPÖ nur sehr wenig politisch aufgearbeitet.

Ist es dann nicht umso unverständlicher, dass sich immer mehr Sozialdemokraten für Gespräche mit der FPÖ öffnen?

Ich bin mir da nicht sicher, dass das so viele sind. Für mich ist das einfach undenkbar. Eine Sozialdemokratie, die von sich behauptet offen für eine Koalition mit der FPÖ zu sein, kann den Laden schließen. Die alleinige Behauptung, nicht mit den Hetzern zu koalieren, ist aber zu wenig. Sehen wir uns das Frauenbild der Freiheitlichen Partei oder deren Vorstellungen einer Justiz oder Kulturpolitik an. Es gibt so viele Felder, wo sie ein nationalistisches, rechtskonservatives, anti-europäisches und autoritäres Staatsverständnis hat. Und das ist keinesfalls mit sozialdemokratischen Ideen kompatibel.

Gehen wir ein Stück raus aus Österreich. Die internationale Musikindustrie strotzt vor weiblicher Freizügigkeit. Glauben Sie, dass diese Künstlerinnen frauenpolitische Ziele verfolgen?

(lacht) Das müssen Sie sie schon selber fragen. Als Feministin und Frauenpolitikerin finde ich etwas anderes viel wesentlicher. Diese Industrie ist extrem männlich dominiert, Frauen haben hier grundsätzlich viel weniger Chancen, um auf die Bühne zu kommen. Natürlich ist das ein sehr harter Verdrängungskampf, der für Frauen sehr schwer zu führen ist. Sehen Sie sich die Festivals an, da werden kaum Frauen eingeladen. Da ist übrigens im Theater nicht viel anders. Als ich im Parlament Kultursprecherin war, habe ich mir alle Regisseurinnen in den großen deutschsprachigen Theatern angesehen. Raten Sie einmal, wie viel es da gab?

Ich muss sagen, ich habe bislang nur sehr wenige Frauenstimmen aus diesem Sektor gehört. 15-20%?

Would be nice. Es sind fünf Prozent. Auch wenn das heute etwa mit einer Frau an der Spitze des Wiener Burgtheaters besser wird, wurden  viele Spielsaisonen mehrmals hintereinander keine Regisseurin oder Autorin eingeladen.

Bleiben wir in der Musikindustrie. Große Teile des modernen Hip-Hops degradieren die Frau zu einem Sexobjekt. Sehen Sie hier einen Ausweg?

Solche Dinge widerspiegeln reale Verhältnisse. Das hat einiges mit dieser bereits zuvor erwähnten Platzzuweisung der Frau zu tun. Einen Ausweg kann es nur über eine direkte Unterstützung der Frauen geben. Nur sie selbst können ihren Platz einfordern.

Stichwort Konsumpolitik: Rosa Shampoos für die Mädchen, blaue für die Jungs. Ist es nicht langsam Zeit für einen wirtschaftsorientierten Feminismus?

Es gab immer wieder Kampagnen und heftige Gegenreaktionen. Mein Mann war bis vor kurzem Vorsitzender der Kinderfreunde Oberösterreich, die einst die Themen Schultasche und Faschingskostüme thematisierten. Da gab es eine große Erregung und, Debatte zugleich. So etwas gibt es immer wieder. Aber Sie haben sicherlich Recht, dieses ökonomische Denken wird stärker. Als ich vor kurzem am ehemaligen Kindergarten meines Sohnes vorbeiging, waren fast alle Mädchen in Rosa gekleidet. Daraufhin meinte die Pädagogin, dass die Situation manchmal furchtbar ist, weil diese Mädchenmode eben auch eine Zementierung von Rollenklischees und Rollenbildern sei.

Bild: Ines Mahmoud
Bild: Ines Mahmoud

Themenwechsel: Wie bewerten Sie den innerfeministischen Diskurs zum Thema muslimische Frau bzw. Kopftuch?

Spannender ist doch, was eine Frau im Kopf hat und nicht auf dem Kopf. Diese Konzentration auf einen Quadratmeter Stoff verstehe ich nicht. Wie müssen sich Frauen fühlen, wenn ständig darüber gesprochen wird, was sie auf dem Kopf tragen. Es wird viel zu viel über Musliminnen geredet statt mit ihnen. Ich habe vor einigen Jahren, als ich politisch noch aktiv war, einige Runde Tische zu dem Thema veranstaltet. Dieses sich austauschen führt dazu, dass wir auch miteinander klüger werden und uns auf Augenhöhe begegnen. Es gibt ja auch Musliminnen, die finden, dass das Kopftuchtragen falsch ist. Ja, aber diese Debatte ist so unnötig.

Der Großteil der muslimischen Frauen, die bei uns leben, hat sich ganz anderen Herausforderungen zu stellen. Sie sind in extrem schlechten Arbeitsverhältnissen, erhalten ein Einkommen, das zum Weinen ist und werden arbeitsrechtlich hintergangen. Ganz zu schweigen von der Diskriminierung und Entwürdigung auf Ämtern. Da spielt diese Kopftuchdebatte eine Rolle, weil man Frauen damit einen Stempel aufdrückt. Wenn das Wort Muslimin in der Zeitung vorkommt, sehen Sie immer eine Frau mit Kopftuch von hinten. Das führt zu einer unglaublichen Abwertung dieser Frauen.

Wann wird es in Österreich die erste Bundeskanzlerin oder Bundespräsidentin geben?

(lacht) Zurzeit sieht es nicht so aus, dass die Parteien darauf setzen, dass es Frauen und Männer gleichermaßen in dieser Welt gibt. Das sieht man am Rückgang des Frauenanteils im Parlament. Die Gleichstellung in einer Gesellschaft hat aber nichts mit einer Bundeskanzlerin oder einer Bundespräsidentin zu tun. Das sieht man ja an einer Angela Merkel oder Margaret Thatcher.

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Wir hatten mit den SPÖ-Frauen noch vor einiger Zeit das Projekt „Unerhört“ organisiert, wo wir mit vielen Frauen in prekären Lebenssituationen sprachen. Da ging es vor allem um Frauen mit Migrationshintergrund, die in Putzfirmen angestellt sind oder die eine Mindestpension beziehen. Was die erleben ist unerhört und es ist unerhört, dass sie das erleben müssen. Wenn sich etwa eine muslimische Frau überlegen muss, ob sie ihr Kleinkind alleine in die Volksschule schickt oder ihren Job verliert, weil der Chef keine Rücksicht nimmt, dass sie nicht um sechs Uhr früh in der Arbeit sein kann. Bei diesen Frauen, die keine Lobby haben und ausgepowert sind, da würde ich sehr gerne nachhaken. Denn da kann man noch sehr viel für die eigene Frauenpolitik lernen.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Robert Stachel: Ich bin nicht der Hofnarr von Wolfgang Schüssel

Bereits als Kind amüsierte sich Robert Stachel mit kunstvollen Parodien über seine Lehrer. Heute ist er Teil des erfolgreichen maschek-Trios, das mit Synchros und Bühnenspiel Österreich zum Lachen bringt. Im Interview spricht er über die Grenzen von Satire, das für ihn schockierende Wahlergebnis von 1999 und warum er die Geburtstagseinladung von Wolfgang Schüssel für grotesk hält.

Wann haben Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben jemanden parodiert?

Die Parodie ist schon lange ein Teil meines Lebens, sodass ich gar nicht mehr weiß, wann es begonnen hat. Aber das erste Thema, das ich behandelte, war sicher die Schule. Ich erinnere mich an viele Momente mit meinem Vater, der selbst Lehrer war. Mit ihm gemeinsam habe ich das Parodieren geradezu zelebriert und kultiviert. Wir haben gemeinsam Lehrer nachgemacht, er seine eigenen von früher, die ich dann lebendig vor mir sehen konnte. Schon in meiner Schulzeit hielt mich das Parodieren am Leben, weil es ein Ventil für den Ärger über Autoritäten war.

Wie haben die Lehrer reagiert?

Die haben das wohl nicht mitbekommen. Ich suchte nicht die große Bühne, ich war nicht der große „Aufzeiger“ in der Schule, war eher zurückhaltend. Die Schule war für mich keine Bühne. Die Reaktion eines Lehrers oder eines anderen Betroffenen interessierte mich damals nicht. Ich versuchte dem eigentlich aus dem Weg zu gehen. Die Parodien waren für mich und mein engstes Umfeld. Und auch heute mache ich es für die Menschen, die freiwillig zu uns kommen – und nicht für die, die ich thematisiere.

Wann wussten Sie, dass es sich um eine Berufung handelt?

Interessiert hat mich das immer schon: Die Komödie, die Parodie, die Bühne. Aber ich habe erst ein paar Anläufe gebraucht, bis ich wirklich in diese Richtung gehen konnte. Mit Mitte 20 war ich ein Jahr im Ausland, das war eine Zeit des Umbruchs und Neubeginns. Nach meiner Rückkehr zeichnete sich bereits das Bühnenleben ab. Zwischen 1998 und 2006 brauchte ich noch andere Jobs und Tätigkeiten, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Danach begann die Zeit, in der ich mich von maschek ernähren konnte.

Bild: Ines Mahmoud
Bild: Ines Mahmoud

Erinnern Sie sich an die erste Persönlichkeit, die Sie auf der Bühne parodierten?

Na ja, wir haben eigentlich mit einem etwas anderen Konzept begonnen. Anfangs arbeiteten wir mit sogenanntem „Found Footage“. Wir gingen zum Flohmarkt und kauften uns Fotos, Dias und Super-8-Filme. Wir konstruierten aus langweiligen Geschichten, die uns Fremde durch ihre Alben und Filme erzählten, aufregende Sensationen. Wir machten etwa das Wien aus den 70er-Jahren zu einem New York oder L.A. und daraus ergab sich eine absurde Komik. Also wir sehen etwas, was offensichtlich nicht das ist, was wir hören. Diese Personen, die zu sehen waren, kannten wir natürlich nicht. Daher gibt es „die“ erste Person in meiner Arbeit nicht. Was es aber gibt, ist der Beginn dessen, was wir heute machen, nämlich die Synchros.

Es begann mit dem Public Viewing für die Nationalratswahlen 1999, wo wir als Moderatoren bzw. als Conférenciers gebucht wurden. Die Wahl, die Schwarz-Blau bzw. Blau-Schwarz einläutete. Nur wir wussten das zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht. Die Veranstaltung fand im Flex statt, dem Wiener Club, der damals eine Hochburg der alternativen politischen Jugendkultur war. Als das Wahlergebnis eintraf, lag so etwas wie Schock, Ärger und Wut in der Luft. Und dann kamen alle Spitzenkandidaten zur Elefantenrunde im TV zusammen. Da saß dieser überlegen grinsende Jörg Haider und der vor den Kopf gestoßene Bundeskanzler Viktor Klima neben einem Wolfgang Schüssel, der auch nicht ganz wusste, wo vorne und hinten ist. Wir haben den Ton abgedreht, weil wir das Gequatsche, vor allem von Viktor Klima, nicht mehr ertrugen. Wir waren schockiert über einen Mann, der wie ein Kaninchen vor der Schlange einfach da saß und nichts mehr zu sagen hatte. Wir haben dann einfach das gesagt, was zu sagen ist. Es war vielleicht albern und aus der Wut heraus nicht genau oder besonders gut, aber es war ein Ventil, um der kalten Wut eine Stimme zu geben.

Bild: Ines Mahmoud
Bild: Ines Mahmoud

Also ein politischer Protest von Ihrer Seite?

Unbedingt! Das war eine aktionistische Intervention: Wir drehen denen den Ton ab und wir holen uns unsere Deutungshoheit zurück. Daraus entstanden eine Marke und ein Aktionismus, der bis heute hoffentlich in unseren Clips zu sehen ist.

Geht es immer um einen politischen Protest oder manchmal nur um die sprachliche Parodie an sich?

Im Idealfall ist es beides. Wir finden einer Nummer dann gelungen, wenn sie sowohl eine politische Dimension hat als auch deppert ist. Wenn wir schon bei der Produktion lachen, weil sowohl die Form passt als auch die Message vorhanden ist, dann ist es ideal. Natürlich gibt es Nummern, die eher den journalistischen Anspruch haben und andere wiederum nur einen humorvollen.

Gibt es beim Parodieren eine Grenze, die nicht überschritten werden sollte?

Das ist sehr schwer zu beantworten, es gibt auch nicht die „maschek-Position“ dazu, sondern drei Einzelpositionen. Ich finde, je weiter ein Witz über eine Grenze geht, desto besser muss er sein. Es ist einfacher, Fäkalausdrücke und Derbheiten auf die Bühne zu bringen als durchdachte, clevere Satire und kluge Wortspiele. Es ist dann eben im wahrsten Sinne eine unsaubere Arbeit. Trotzdem tut es einfach gut, manchmal Scheiße zu sagen. Ähnlich ist es mit einer Beleidigung. Wenn sie substantiell ist, dann muss ich sie äußern. Wenn es nur darauf abzielt, jemanden anzuschwärzen oder herunterzumachen, dann finde ich es nicht lustig. Aber wenn im Idealfall sogar der Betroffene selbst darüber lachen kann, dann war der Witz offenbar gut genug. Beim Produzieren einer neuen Nummer gibt es immer wieder Diskussionen, ob oder wie man etwas sagen kann. Man muss es ja dann ein paar Mal auf der Bühne spielen und davon überzeugt sein. Und für harte Streitfälle hat jeder von uns einmal pro Jahr ein Veto. Das müssen die anderen dann akzeptieren, der Witz wird dann nicht gespielt. Es kommt aber nur selten dazu.

Nach der Katastrophe von Paris: Wenn Satire alles darf, soll sie auch alles tun?

Satire soll alles tun dürfen, ich tue aber nicht alles. Witze über Religionen sind eine undankbare Sache. Ist man zu vorsichtig, wird es langweilig. Ist man zu scharf, muss man unberechenbare Reaktionen fürchten. Ich bin in einem katholischen Umfeld aufgewachsen und weiß, wie viel Bedeutung religiöse Gefühle und Tabus für einen Menschen und eine Gruppe haben können – auch wenn ich selbst nicht religiös wurde. Mein Thema ist der Staat und nicht die Kirche. Und deshalb kann ich wohl auch keine Witze über Gesellschaften machen, die Kirche und Staat nicht klar trennen.

Abgesehen davon halte ich sehr viel davon, dass man erst über Dinge spricht, wenn man genug darüber weiß. Wir erhielten auch teilweise Zuschriften mit der Frage, warum wir uns über den Papst lustig machen, aber nicht über den Islam. Wir antworteten, dass wir uns damit nun mal besser auskennen. Und über die Kultur, der man angehört oder in der man aufgewachsen ist, kann man eben auch die besten Witze machen. Selbst bei unseren Papstnummern machen wir uns aber nicht über den Glauben als solchen lustig, sondern über ein politisches Amt, über die Personen Benedikt XVI und Franziskus, und über Rituale und Vorstellungen, die ich für bedenklich halte.

Die Ursache des Extremismus, der auch zu den Attentaten von Paris geführt hat, sollte man meiner Meinung nach aber nicht nur in der Religion oder in der Beleidigung religiöser Gefühle suchen. Man wird sich mit dem Thema intensiv beschäftigen müssen, aber es überfordert meine humoristischen Möglichkeiten.

Zurück nach Österreich: Wie steht es um den Kabarett-Nachwuchs?

Jetzt kommen wir endlich zu einem wirklich kontroversen Thema, da kann ich mir die Finger verbrennen. Obwohl wir schon in unseren Vierzigern sind, gelten wir in Österreich noch immer als die neuen, das ist irgendwie grotesk. Nächstes Jahr feiern wir unser 20. Jubiläum. Aber im Ernst: Ich bin leider nicht auf dem Laufenden, was die Kabarettszene in Österreich angeht.

Was würden Sie einem jungen Kabarettisten mit auf den Weg geben?

Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn jemand in meinem Alter einem jungen Menschen einen Ratschlag mitgibt. Ich muss die Frage brüsk zurückweisen. Nicht lustig! (lacht)

Bild: Ines Mahmoud
Bild: Ines Mahmoud

Wie verhindert man bei einer Parodie selbst zu lachen?

Gar nicht, das soll man auch nicht verhindern. Dieses ehrliche Lachen ist sehr wichtig. Ich höre oft vom Publikum, wie sehr man uns ansieht, dass wir selbst so viel Spaß an der Sache haben. Ich habe den Ruf von uns dreien der Lachsack zu sein. Und das genieße ich. Außerdem habe ich so viele alte Nummern mittlerweile vergessen, dass ich immer wieder über unsere eigenen Sachen lachen kann.

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?

Da gibt es genug Personen. Aber weil es gerade passt: Auf unserer Homepage steht ausdrücklich, dass wir nicht für politische Parteien zu buchen sind. Vor kurzem kam eine Booking-Anfrage der ÖVP, ob wir beim 70. Geburtstag von Wolfgang Schüssel auftreten wollen. Das ist ein wenig indiskret, wenn ich das nun offenlege. Aber es ist für mich so grotesk, dass ich es erzählen möchte. Es zeigt gut die Grenzen unserer Arbeit auf. 15 Jahre nachdem man ihnen die Stimme wegnahm, laden sie einen zum Geburtstag ein. Als Pausenclown und Hofnarren. Um kein Geld der Welt würden wir das machen, eh klar.

Bei den Stichworten Schüssel und Geld kam es mir in den Sinn, dass Wolfgang Schüssel mit seiner Politik zwar einer Menge Leute dazu verholfen hat mit dubiosen Mitteln zu Reichtum zu kommen, aber sich selbst meines Wissens keinen finanziellen Vorteil verschafft hat. Warum? Da würde ich nachhaken.

Vielen Dank für das Gespräch!

Matti Bunzl: Ich überlasse Wien nicht den Rechtspopulisten

Der Kulturanthropologe Matti Bunzl kehrt nach 24 Jahren in den USA nach Wien zurück, um das Zepter des Wiener Stadtmuseums in die Hand zu nehmen. Im Interview spricht er über die soziokulturellen Unterschiede zwischen Österreich und den Vereinigten Staaten, mögliche Wege aus der Integrationsdebatte und darüber, wie er nach dem Rekordjahr 2014 noch mehr Besucher und Besucherinnen in das „Wien Museum“ bringen will.

Wann haben Sie gemerkt, dass Geschichte Ihre Berufung ist?
Das hat eigentlich direkt mit diesem Haus zu tun. Ich bin in Wien geboren und aufgewachsen. Als ich sieben, acht oder neun Jahre alt war, begeisterten mich die ausgestellten Stadtmodelle im Wien Museum. Damals erkannte ich, dass Geschichte erfahrbar und analytisch nachvollziehbar ist. Das Modell mit den alten Stadtmauern von Wien und daneben die moderne Stadt mit den Prachtbauten an der Ringstraße zu erblicken war sicherlich ein sehr prägender Moment für meine Identitätsfindung. Viele Jahre später, genauer gesagt im Jahre 1985, beeindruckte mich die Ausstellung „Traum und Wirklichkeit“, die das Wien zur Jahrhundertwende beleuchtete. Nach meiner Matura ging ich in die USA, um zu studieren. Dort faszinierte mich die Kulturanthropologie, die versucht, die gesamte Menschheit analytisch zu erfassen. Ich sehe mich in erster Linie als Wissenschaftler und bin erst viele Jahre später ins Kulturmanagement gewechselt. Vor fünf Jahren übernahm ich die Intendanz des Chicago Humanities Festival, das größte geisteswissenschaftliche Festival in den USA. Daneben widmete ich mich aber immer der Forschung rund um die Stadt Wien und somit repräsentiert das Wien Museum genau das, was ich immer schon gemacht habe.

Nach 24 Jahren USA kehren Sie in ihre Heimat Österreich zurück. Wo sehen Sie die größten gesellschaftspolitischen Unterschiede?
Die mit Abstand wichtigste Unterscheidung, auch wenn es sicherlich ein Klischee ist, ist das tiefe Selbstverständnis der USA, ein Einwanderungsland zu sein. Ohne die rosarote Brille aufzusetzen und die unfassbare Ungleichheit in den Vereinigten Staaten zu ignorieren, muss angemerkt werden, dass Einwanderung dort als ein absolutes Plus verstanden wird. Die Bevölkerung geht davon aus, dass die USA deswegen ein so starkes Land ist, weil Menschen aus der ganzen Welt einwanderten, um den American Dream zu leben. In Österreich finden wir ein solches konstitutives Grundverständnis nicht.

Bild: Christoph Hopf
Bild: Christoph Hopf

 

Wie stark veränderten die Terroranschläge vom 11. September 2001 diese offene Haltung der Gesellschaft?
Es gibt in den USA eine Islamophobie, ja die gibt es. Aber sie ist kleiner und strukturell anders bedingt als in Europa. Ein wichtiges Gründungsmotiv der Vereinigten Staaten war neben der liberalen Einwanderungspolitik  die religiöse Freiheit. Dieser religiöse Pluralismus, der für alle Bekenntnisgemeinschaften einen Platz in der Gesellschaft vorsah, muss in einem christlichen Kontext gesehen werden. Da ging es etwa um protestantische Sekten, die in Europa verfolgt wurden. In den USA genossen sie jedoch eine unbeschreibliche Freiheit. Später förderte dies das Zusammenleben mit jüdischen und muslimischen Gläubigen.

Der Islam genießt unzählige Freiheiten. Etwa ist das Kopftuch an keiner Universität ein brisantes Thema, eine derartige Diskussion wie jene in Frankreich wäre in den USA unvorstellbar. Die Bevölkerung verstand den Angriff vom 11. September unmittelbar als einen terroristischen Angriff. George W. Bush, dessen Freund ich niemals war, zog umgehend eine Trennlinie zwischen dem Islam und den Angreifern. Er besuchte die Moschee von Washington, um dort aktiv seine Solidarität zu zeigen. In Österreich fällt es den Politikern noch immer schwer, den Islam als Teil dieses Landes zu sehen. In Amerika wäre das eine Selbstverständlichkeit.

Kann das Wien Museum zu einem besseren Miteinander beitragen?
Wir werden mit Sicherheit dieses Thema aufgreifen. Ich bin ein Realist und ein Pragmatiker zugleich. Wird das Wien Museum ein Haus werden, wo Katholiken, Juden und Muslime gemeinsam zum gleichen Lied schunkeln? Unwahrscheinlich. Wo das Wien Museum aber eine Führungsrolle übernimmt, ist in der Darstellung der Wiener und der österreichischen Realität als eine inhärent multikulturelle. Wien ist und war eine Weltstadt und das meine ich ernst. Das heißt aber, dass wir diese Stadt niemals als eine rein monokulturelle, germanisch-deutsche Stadt sehen dürfen. Das war sie nicht und das wird sie in absehbarer Zeit nicht werden. Mir geht es nicht darum, Leute für irgendeine Schunkelstimmung zusammenzubringen. Ich möchte einen Ort schaffen, wo die kulturelle Vielfalt der Stadt als eine Selbstverständlichkeit gezeigt wird.

Bild: Christoph Hopf
Bild: Christoph Hopf

Was muss in Österreich passieren, dass das Thema des Miteinanders nicht mehr derart polarisiert?
Eine solche Frage ist sehr philosophisch und wichtig zugleich. Ich bin gekommen, um Teil dieses Kampfes zu sein. Mir sind Wien und Österreich einfach viel zu wichtig, als dass ich dieses Terrain den  Rechtespopulisten überlassen kann. Das lasse ich nicht zu. Gleichzeitig glaube ich, dass effektive Antworten eine gewisse Qualität haben müssen. Ich befürchte, dass tiefemotionell sitzende Gefühle nicht leicht mit rationalen Argumenten zu beseitigen sind. Ein Beispiel: Wien und Österreich wären ohne die Einwanderung völlig überaltert, die früher oder später aufgrund fehlender Pensionsfinanzierung Pleite gehen würden. Das ist ein Faktum, wir wären so aufgeschmissen ohne Einwanderung. Das Problem ist, dass ein solches Argument nur sehr wenige Leute überzeugt. Die Rolle des Wien Museum ist, diese Ängste vor der Migration zu verstehen und die Multikulturalität in einer nicht belehrenden Art darzustellen. Da habe ich einige Ideen, die aber noch nicht spruchreif sind.

Sie übernehmen mit 1. Oktober 2015 offiziell die Führung des Wien Museum. Was sind die größten Herausforderungen?
Die große Herausforderung ist der Um- und Ausbau des Hauses. Für mich ist das unheimlich spannend und die Finanzierung spielt dabei eine große Rolle. Aber alles Geld dieser Welt kann dir kein gutes Museum zusammenbasteln. Es geht darum, eine für die Stadt relevante, spannende Plattform zu sein. Das beginnt bei Ausstellungen bis hin zum Schaffen von Orten, wo Gespräche stattfinden. Ich spreche gerne vom Labor der Zivilgesellschaft. Ich verfolge hier sicherlich eine sehr amerikanische Interpretation von Museen.

2014 war ein Rekordjahr für Ihr neues Haus. Wer ist der typische Wien Museum Besucher?
Wir haben ziemlich gute Demographien und wir sehen, dass uns die Wiener und Wienerinnen sehr lieben. Ich denke, die Menschen sehen uns als das Museum ihrer Stadt. Die klassischen Besucherinnen und Besucher möchten bewusst mehr über Wien erfahren, über seine Kultur und seine Geschichte. Das ist fantastisch und großartig. Was ich aber noch zusätzlich gern hätte, wären Besucherinnen und Besucher aus dem Ausland oder Menschen, die nur temporär in Wien sind. Gerade bei Touristen sind wir nicht so sehr am Radar, wie ich es gern hätte.

Bild: Christoph Hopf
Bild: Christoph Hopf

Scheitert das an der fehlenden Werbung im Ausland?
Da spielen natürlich unterschiedliche Faktoren mit. Wir sind ein Stadtmuseum und kuratieren Ausstellungen über die Wiener Geschichte. Derartiges zu vermarkten ist nicht leicht. Gäste aus dem Ausland orientieren sich an den vorhandenen Reise-Guides, in denen das Wien Museum nicht wirklich als eine Attraktion vorkommt. Somit müssen wir überlegen, wie wir hier auffallen und unser Angebot für diese Gruppe so spannend wie möglich gestalten können.

Sie sind ein großer Opernfan und umgeben von hochwertigen kulturellen Einrichtungen. Welche Rolle spielt Innovation in Ihrer Planung?
Eine sehr große! Ich trete an, um diesen Betrieb weiterzuführen und neue Ideen einzubringen. Es wird extrem interessante Formate und spannende Kooperationen geben. Ich treffe mich sukzessiv mit allen Kulturinstitutionen in der Stadt und jedes Gespräch ist die Basis für ein potentielles oder bereits zu planendes Projekt.

Instagram, YouTube, Snapchat. Wie sprechen Sie die Generation Y mit Ihren Projekten an?
Meine Arbeit in den USA war stark durch Social Media geprägt. Beim Kuratieren von Ausstellungen und Projekten geht es immer darum, mit welchen Marketingmethoden ich mein jeweiliges Publikum erreiche. Nur weil die Substanz existiert, heißt das noch lange nicht, dass auch jemand kommt. Gerade in einer Stadt, in der es so viele Angebote gibt. Ich muss verstehen, was junge bildungsinteressierte Menschen denken und was sie wollen. Und als Ethnologe ist das meine Aufgabe.

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?
Eines meiner großen Idole ist Franz Boas, der Begründer der amerikanischen Anthropologie. Er war in allen Belangen eine gigantische Figur. Ihn hätte ich sehr gerne kennengelernt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Misik: Die fehlende Glaubwürdigkeit der Linken

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Robert Misik ist mehr als nur ein Intellektueller innerhalb des linken politischen Spektrums. Mit seinen wortwitzigen und pointierten Videoblogs auf derStandard.at unterhält er wöchentlich ein breites Publikum. Im Interview spricht er über das Fehlen einer linken Wirtschaftsalternative, übertriebener Hysterie beim Thema TTIP und einem linkspolitischen Lichtblick in der österreichischen Regionalpolitik.

Stimmt die Hypothese von Yuval Harari, wonach die Wirtschaft den Menschen nicht mehr brauche?
Nein, denn dafür sprechen keine Fakten. Wenn wir uns die Wirklichkeit und nicht irgendwelche Hirngespinste ansehen, dann erkennen wir rasch, dass sich die Beschäftigungsquote, also der Anteil der Bevölkerung die Lohnarbeit nachgeht permanent ausweitet – man denke allein an die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit. Trotz Automatisierung treten immer mehr Menschen in den Produktionsprozess ein. Es ist einfach eine empirische Tatsache: Automatisierung führt zur Steigerung der Produktivität, aber nicht generell zur Ersetzung von Menschen durch Maschinen.

Sehen Sie keine Bedrohung für Beschäftigungsarten, die durch automatisierte Systeme obsolet werden?
Ich sehe keinen Strukturwandel, der dazu führt, dass weniger Menschen am Produktionsprozess beteiligt sind als früher. Historisch gesehen hat sich eine derartige Bedrohung trotz Technisierung nicht bewahrheitet. Es stimmt natürlich, dass es zu einer sinkenden Nachfrage in bestimmten Ökonomien für schlecht qualifizierte Arbeitnehmer kommt. Diese sind nicht nur durch die Automatisierung bedroht, sondern auch durch die Verlegung von Billigproduktion nach Südost-Asien. Das muss man sich dann im Detail ansehen, weil natürlich auch neue Jobs für schlecht qualifiziertes Personal, etwa im Bereich der persönlichen Dienstleistungen, entstehen. Eines ist aber ganz sicher richtig: Der Druck auf ungelernte Beschäftigte ist heute sicherlich größer als vor einigen Jahrzehnten, sie haben größere Schwierigkeiten, Jobs zu finden, und wenn sie welche finden sind diese sehr schlecht bezahlt.

Wie sieht unser ökonomisches Leben im Jahr 2030 aus?
Keine Ahnung (lacht). Derartige Prognosen halte ich nicht für klug. Neben einem technologischen Fortschritt, der nur schwer voraussagbar ist, gibt es den schwer einschätzbaren gesellschaftspolitischen Wandel. Hätte man uns im Jahre 1990 gefragt, wo wir 2010 stehen werden, wären wir bei vielen Dingen falsch gelegen.

Was ist an der Grundidee des Neoliberalismus falsch, einen antikommunistischen und antikapitalistischen Mittelweg zu gehen?
Wann soll das die Grundidee des Neoliberalismus gewesen sein?

Wenn wir uns etwa die Diskussionen vor dem zweiten Weltkrieg ansehen, wie den Gesprächsgipfel Colloque Walter Lippmann.
Da kommen wir in die Sphäre der Begriffsklauberei und Haarspalterei. Der Begriff des Neoliberalismus hat in den vergangenen 50 Jahren sein Gesicht verändert. Ursprünglich meinte der Begriff die Schule des Ordoliberalismus in Deutschland, die eigentlich dem heutigen Verständnis der sozialen Marktwirtschaft entspricht. Also sozialen Ausgleich, Bekämpfung von Monopolen und das Verhindern von Privilegien für mächtige Kapitalgruppen. Damals bedeutete der Begriff das Gegenteil von unserem heutigen Verständnis von Neoliberalismus. Seit 1970 handelt es sich um eine free-market und laissez-faire Ideologie, wonach Märkte so frei wie möglich agieren sollen. Wenn dabei manche unter die Räder kommen, dann ist es laut dieser Denkweise eine gerechte Marktentscheidung. Es hat keinen Sinn, wenn manche besserwisserisch meinen, dass Neoliberalismus etwas anderes bedeutet. Ein Begriff heißt das, was er in dem Moment für einen Großteil der Menschen, die ihn im Sprachgebrauch nutzen, bedeutet. Alles andere ist einfach nur Scholastik.

Woran liegt es, dass trotz der massiven Wirtschaftskrise neoliberale Parteien in Europa Wahlen gewinnen?
Es gibt nie nur einen Grund. Die Welt ist komplex und daher hat alles, was geschieht, multikausale Ursachen. Ein Grund für das Aufkommen der Marktideologie des Neoliberalismus ist mit Sicherheit, dass der keynesianische Mainstream in den 1970-er Jahren an seine Grenzen stieß und aufkommende Krisenerscheinungen nicht erklären konnte. Zugleich standen die neoliberalen Kräfte mit ihrem Konzept parat, während die sozialistische und sozialdemokratische Linke selbst an sich zu zweifeln begann. Jedoch fehlte es an eigenen Modernisierungskonzepten und so entwickelten sie sich ein bisschen in die Richtung des langsam entstehenden neoliberalen Mainstreams. Jetzt, nachdem uns der Neoliberalismus – simpel gesagt – die größte Wirtschaftskrise seit den 1930-er Jahren eingebrockt hat, ist es für die Linke schwierig darauf zu reagieren.

Hat das mit einer mangelnden Vermarktung von Alternativkonzepten zu tun oder gibt es die gar nicht?
Linke generell und Sozialdemokraten im Besonderen haben sich in den letzten 30 Jahren relativ wenig mit Ökonomie beschäftigt. Selbst wenn es ein Konzept gibt, mangelt es an Glaubwürdigkeit, da man zuvor jahrelang das gegenteilige Konzept mittrug. Eine erfolgreiche sozialdemokratische Politik war immer eine populäre und damit für die normalen Leute. Diese Glaubwürdigkeit geht aber verloren, wenn Mittelschicht-Bubis sich anziehen und so sprechen wie die technokratischen Eliten. Das sind alles Gründe, warum die demokratische und gemäßigte Linke es schwerer hat, an die Erfolge aus der Vergangenheit anzuknüpfen.

Robert Misik im AudiMax 2009 (Bild: Nick Wolfinger)
Robert Misik im AudiMax 2009 (Bild: Nick Wolfinger)

Kann die radikale Linke, wie etwa die SYRIZA in Griechenland, die neoliberale Hegemonie durchbrechen?
Man sollte hier nicht übertreiben oder je nach Standpunkt in Euphorie ausbrechen. Griechenland ist ein Sonderfall, weil die klassische Sozialdemokratie dort zusammenbrach. Diesen Platz hat eine radikale Linke vollständig ausgefüllt. Das ist etwas anderes als der plötzliche Aufstieg einer unabhängigen Linken in Spanien, die aber neben einer sozialdemokratischen Linken existiert. Das führt dazu, dass sich beide bekämpfen. In Deutschland etwa sehen wir eine sehr, sehr rechts gewordene SPD, die in Wirklichkeit bei wirtschaftspolitischen Konzepten rechts vom Internationalen Währungsfonds steht. Gleichzeitig gibt es eine politische Linke, in Form der Linkspartei, die das politische Spiel in Deutschland auch nicht lebendiger macht. Hier muss von Land zu Land unterschieden werden, Griechenland bleibt ein Sonderfall.

Thema Konsumkultur: Verliert Europa bei Unterzeichnung des transatlantischen Freihandelsabkommen einen Teil ihrer Identität?
Da ist eine große Portion an paranoider Übertreibung dabei. Hier wird nicht wirklich etwas eingeführt, das es nicht schon gibt. Es ist ja nicht so, dass es zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union dramatische Handelsbarrieren wie Schutzzölle gibt. Wir haben einen de facto freien Handel innerhalb dieser Zone. Die Grundidee von TTIP ist vorhandene Handelshemmnisse zu beseitigen, die automatische Produktzulassungen etwa in beiden Wirtschaftsräumen für Unternehmen erschweren. Das Hauptproblem, und daher gehört es bekämpft, ist die Privilegierung von großen Wirtschaftsakteuren. Es ist verrückt, dass ich als Unternehmer die Regierung eines Landes, das nicht meinem Hauptsitz entspricht, aufgrund von wirtschaftspolitischen Gesetzen klagen kann. Derartige Regelungen auf Volkswirtschaften wie die USA oder die Eurozone umzulegen, sind absurd.

Kommen wir nach Österreich: Gibt es hierzulande noch eine “echte“ linke Politik?
(lacht) Das kommt natürlich darauf an, was man unter echter linker Politik versteht. Gerade in Bezug auf die Euro-Krise ist Faymann im Vergleich zur holländischen oder deutschen Politik ein grundsatzorientierter Sozialdemokrat, geradezu eine Lichtgestalt. Gleichzeitig sehe ich keine erfolgsversprechende linke Politik in Österreich. Wobei auch hier differenziert werden sollte: Rot-Grün in Wien sind sicherlich linker und erfolgreicher als anderswo. Das gilt sicherlich nicht für den Bund und jedes einzelne Bundesland, das im Detail zu beurteilen ist. Die Sozialdemokratie in Österreich ist als Ganzes sicherlich eine sozialistischere Sozialdemokratie als die meisten in Europa. Sie hat aber ein dramatisches Problem mit ihrer Führung im Bund und das bereits seit dem Abtreten von Vranitzky. Auch davor war nicht alles Gold, was glänzt, aber seither ist alles Kohle, was nicht glänzt.

Warum lassen sich linke Parteien derart von der Integrationsdebatte vereinnahmen?
Die Situation ist nicht einfach. Seit ungefähr 30 Jahren gibt es eine xenophobe Stimmung in diesem Land. Begonnen hat es mit den Grenzöffnungen und den Migrationsströmen Ende der 1980-er Jahre. Dagegen zu argumentieren ist sicherlich schwer, insbesondere wenn eine starke rechtspopulistische Partei diese Stimmung benützt. Von daher gibt es immer eine Wackeltaktik zwischen Dagegenhalten und Zugehen gegenüber den Rechten. Mit dieser Ungenauigkeit begibt man sich in ein Dilemma, dem man eigentlich zu entfliehen versucht. Natürlich bringt die Massenmigration kulturelle Differenzen und neue soziale Unterklassen mit sich. Darüber nicht zu sprechen, weil man Angst hat in die Rassismus-Schiene zu rutschen, macht die Sache nicht besser. Diese Hemmung über Probleme offen zu sprechen, führte uns in die Scheiße, in der wir seit Jahrzehnten sitzen.

Die Bundeshauptstadt wählt noch in diesem Jahr. Bleibt Rot-Grün im Sattel?
Ich glaube Rot-Grün hat gut regiert, das war schon ganz in Ordnung. Das Problem ist natürlich, dass diese Koalition aufgrund des Verlusts der SPÖ-Absoluten entstand. Somit sind die Sozialdemokraten nicht gerade mit einer großen Euphorie in diese Regierung gegangen. Dieses Ursprungsproblem, also einen rot-grünen Geist zu entwickeln, haben sie in den vergangenen fünf Jahren nicht gelöst. Ein weiteres Problem ist der Gegenwind aus dem Bund. Menschen wählen bei Landtagswahlen nicht nur aufgrund von regionalen Fragen. Der SPÖ nützt dieser nicht, den Grünen eher schon. Natürlich wird die FPÖ zulegen, aber das hat wenig mit Wien zu tun. Ich denke, dass die Sozialdemokraten für ihre Verhältnisse dramatisch verlieren werden, wobei 40 Prozent werden sie schon bekommen. Die Grünen werden leicht gewinnen, letztlich sind wir dort wo wir immer sind in Wien: 56-60 Prozent stimmen links der Mitte ab.

Falls Alexander van der Bellen kandidiert, ist Österreich bereit für einen “grünen“ Staatspräsidenten?
Alexander van der Bellen spielt mittlerweile in einer anderen Liga und daher sehe ich ihn nicht als “grünen“ Kandidaten. Es hängt natürlich von den Gegenkandidaten ab, wenn etwa die SPÖ einen Hundstorfer und die ÖVP einen Pröll ins Rennen schicken. Dann wird die persönliche Reputation eines van der Bellen nicht über 20 Prozent hinausragen. Wenn aber eine oder beide Parteien sagt, uns ist diese Wahl nicht so wichtig, dann besteht natürlich eine Chance. Oder wenn die Sozialdemokraten offen seine Kandidatur unterstützen, dann hat er den Sieg in der Tasche. Aber das glaube ich nicht (lacht).

Abschließend, bei wem würden Sie gerne einmal nachhaken?
Na, da gibt es viele. Ich würde beispielsweise Frau Merkel oder Herrn Schäuble gerne fragen, ob sie persönlich wirklich an ihre bizarre Austeritätspolitik glauben, oder ob sie nicht insgeheim wissen, dass diese eine Sackgasse ist und aus bloßen machtpolitischen Gründen an einer gescheiterten Politik festhalten, wissend, dass diese Europa ins Unglück stürzt.

Danke für das Gespräch.